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Ein Junge begrüßt Polizisten in Baltimore. Der soziale Frieden ist in der Ostküstenstadt vorläufig wieder hergestellt.

© Reuters

Baltimore, Pegida, 1. Mai: Der soziale Kitt: Was den Frieden wahrt

Demokratie ist ein Resonanzversprechen, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Dieses Versprechen wird in vielen Ländern derzeit gebrochen. Es wird Zeit für ein Umdenken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Baltimore kommt langsam zur Ruhe. Am Freitag wurden sechs Polizisten wegen des Todes von Freddie Gray angeklagt. Der junge Schwarze, der an Verletzungen starb, die er offenbar in Polizeigewahrsam erlitt, kam aus dem Stadtteil Sandtown. Dort wurde die Anklage am Samstag ausgiebig gefeiert. Der gesellschaftliche Frieden ist zurückgekehrt, jedenfalls für den Augenblick.
Auch in Berlin blieb es am Wochenende weitgehend friedlich. Dieses Mal flogen am 1. Mai kaum Steine. Dafür kam es anderswo zu Gewalt. In Weimar überfielen Rechte eine Demonstration des DGB, vier Menschen wurden verletzt.
Das rituelle Randalieren „autonomer“ Wohlstandskids am 1. Mai und die rechte Gewalt in Deutschland haben auf den ersten Blick wenig mit Baltimore zu tun. Beides aber, der Pegel der Gewalt am 1. Mai und die Unruhen in den USA, werfen die grundsätzlichere Frage auf, was Gewalt auch in Wohlstandsgesellschaften gelegentlich auf die Straße treibt, also in den öffentlichen Raum – und wie sich solche Ausbrüche verhindern lassen.
Die Frage ist für Deutschland von zunehmender Relevanz. Vor dem Hintergrund der Pegida-Demonstrationen haben konservative Politiker wie Thomas de Maizière oder der bayerische Innenminister Joachim Herrmann davor gewarnt, dass durch die Aufnahme von Flüchtlingen ein gesellschaftliches Ungleichgewicht entstehen könnte, dass die Akzeptanz schwinden könnte. Ein heikles Argument. Keine Rücksicht auf Extremisten, ist eine Antwort darauf. Doch selbst linke Politiker wie die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney sehen die Gefahr, den Rückhalt der Bürger zu verlieren. Im Interview mit dem Tagesspiegel sagte sie kürzlich: „Die Menschen haben nicht einmal Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird. Nennen wir es ein Aufmerksamkeitsdefizit.“

Wo bleibt die Wechselwirkung zwischen Politik und Bürgern?

Achtsamkeit ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammen hält. Eine der klügsten Beschreibungen dieses Phänomens findet man bei dem Soziologe Hartmut Rosa. Bei ihm heißt die Sehnsucht nach sozialer Aufmerksamkeit „Resonanz“. Kinder könnten ohne Resonanz nicht aufwachsen, sagte er einmal in einem Interview mit der „Zeit“, bezieht den Begriff aber auch auf Institutionen. Demokratie sei ein Resonanzversprechen, sagt Rosa. Sie beruhe auf der Wechselwirkung zwischen Politik und Bürgern.

Unruhen haben viele Ursachen. Einige sind konkret: das Verhalten der Polizei, ja, sogar das Wetter. Es gibt Auslöserereignisse, wie der Tod von Freddie Gray. Nichts davon aber reicht aus ohne einen tieferliegenden sozialen Unfrieden: Das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, nichts bewirken zu können. Mischt sich dieses Gefühl mit rassistischen Ressentiments, wird es gefährlich.
Es kommt letztlich nicht darauf an, dass alle gleich sind. Wichtig für den gesellschaftlichen Frieden ist es aber, dass jeder das Gefühl hat, eine Verbindung zum Rest zu haben, einen Kanal, auf dem er seine Bedürfnisse artikulieren kann und auf dem etwas zurückkommt.
Für viele Arme (oft: Schwarze) in Amerika ist das nicht der Fall. Ihr Handeln findet keine Resonanz. Einem Reporter der New York Times sagte ein Sozialarbeiter in Sandtown kürzlich: „Sie wollen, was alle anderen auch wollen. Aber sie scheinen dem überhaupt nicht näher zu kommen.“ Deshalb wurde es in Baltimore wie ein Sieg gefeiert, dass Konsequenzen gezogen und Polizisten angeklagt wurden. Auch die deutsche Politik darf den Rückkanal nicht vergessen. Dass heißt nicht, mit Schlägern zu sprechen. Aber mit möglichst vielen im Gespräch zu bleiben, bevor sie welche werden.

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