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Politik: Die nächste letzte Chance

SCHRÖDERS REDE

Wenn ein 58-jähriger Dreher, seit langem arbeitslos, eine neue Stelle bekommt: Dann freut er sich, eine „letzte Chance“ erhalten zu haben. Das kann man gut verstehen. Fast fünf Millionen Arbeitslose warten auf eine solche Chance. Doch es ist ein Einzelner, eher über- denn unterbeschäftigt, der heute Morgen seine angeblich letzte Chance erhält: der Kanzler.

Das Bild von der „letzten Chance“ suggeriert, da harre ein Steuermann allein auf Deck aus, stemme sich der sturmumtosten See entgegen, reiße mit ganzer Kraft das Ruder herum. Die Planken biegen sich, das Staats-Schiff ächzt, vielleicht geht auch das eine oder andere schlecht Vertäute über Bord. Aber am Ende warten als Lohn ruhigere Gewässer. Die Schlusseinstellung zeigt den Steuermann von hinten, wie er der aufgehenden Sonne entgegengleitet. Schröder soll es also richten. So weit der Traum. Hier beginnt das Problem. Das Wort von der „letzten Chance“ spiegelt eher die Erwartungen der Republik als die realen Möglichkeiten der Politik.

Denn die hat etwas mit Kontinuität zu tun, muss den engen Korridor des Machbaren ausmessen, auf Grenzen und Barrieren achten. Auch zur Person Schröders passt die „letzte Chance“ schlecht. Ein Moderator, und in dieser Rolle sah sich der Kanzler bislang, leistet sich kaum Überzeugungen, er braucht Flexibilität, setzt nicht auf „letzte“ Gelegenheiten, sondern auf stete Nachbesserungen. Zudem ist Schröder einer, dessen politische Rhetorik, frei von jeder Seemanns-Romantik, eher prosaisch denn pathetisch klingt. Lyrik, Drama, „Letztes“: Bisher war das Schröders Sache nicht.

Bisher. Die wahre Änderung, die heute spürbar werden soll, ist keine, die mit dem Kündigungsschutz, mit Unfallversicherungen oder dem Flächentarifvertrag zu tun hat. Was sich da – vorgeblich – dreht, ist Schröders Anspruch. Der neue Kanzler gibt vor. Den anderen, so sagt er es selbst, bleibt die Rolle, sich „dazu zu verhalten“, sich „darauf zu beziehen“. Aus dem Ankündigungskanzler soll also der Führungskanzler werden.

Nur lenkt Schröder eine uneinige Mannschaft. Es gibt nämlich nicht nur immer mehr Bürger, die ihre soziale Lage als gefährdet, ihre Zukunft als düster, Deutschland als absteigendes Land und den Wohlstand bis weit in die Mittelschicht hinein als bedroht sehen. Sondern daneben auch viele zur Meuterei Bereite, die die Grundfesten der korporatistischen Gruppen-Ordnung für tragfähig halten. Das sind jene, die glauben, ohne das Platzen der Aktienblase, ohne 11. September und Weltwirtschaftskrise hätten wir zwei oder drei Prozent Wachstum mehr, und dann würde niemand über angeblich notwendige Strukturreformen streiten. Die Grundsatzfrage also, ob nur eine Behelfsreparatur nötig ist oder doch der systematische Generalumbau, ist für das Publikum noch nicht beantwortet. Auch in den Volksparteien nicht.

Und dazu passt ein nächster Schritt besser als eine „letzte Chance“. Deren Endgültigkeit beißt sich mit der Realität des 14. März, morgens um neun, im Bundestag. Was wäre denn, wenn Schröder sie verspielte? Wäre es wirklich die letzte, so müsste er im Fall des Scheiterns stürzen. Doch im Parlament gibt es keine Mehrheit gegen ihn, und Neuwahlen lassen sich so auch nicht erzwingen. Weiterhangeln, weiterschleppen, weitertraben, weiterzittern: Dies alles sind Worte, die nicht so sexy klingen wie „letzte Chance", Daumen hoch oder runter. Sie sind allerdings der Lage angemessener.

Gesucht wird der richtige Kompass für den weiteren Kurs. Wer gerade steuert, braucht keine vorletzte, letzte oder allerletzte Chance. Er muss Richtungssinn mitbringen. Und Durchsetzungsvermögen. Das Unheil kommt schleichend, das Rettende auch. Heute werden wir bestenfalls erfahren, ob Schröder einen Weg des „Mutes" vorgibt, wie er selbst verspricht. Tut er es, hat Deutschland eine Chance. Und Schröder mit dem Land.

Übrigens (das ist des Kanzlers Lieblingswort), Arbeitslosigkeit droht dem 58-jährigen Kanzler nicht. Im Gegenteil, seine zentrale Aufgabe geht weit über den heutigen Tag hinaus. Er muss Vertrauen aufbauen – für Deutschland. Er ist in der Pflicht. 80 Millionen Bürger warten auf ihre Chance. Dass es die letzte ist, wollen wir nicht hoffen. Egal was heute verkündet wird: Weitere Chancen hätten wir schon gern.

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