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Demonstration des rechtspopulistischen Bündnisses Pro Chemnitz vor dem Karl-Marx-Denkmal.

© Hendrik Schmidt/dpa

Machtkritik im Liberalismus: Die Verspießbürgerlichung der Demokratie

Es ist eine privilegierte Sicht auf die Welt, die die Existenz von verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft nicht erfassen kann oder will. Eine Kolumne.

Gegen einen der Urväter des Liberalismus, Jeremy Bentham, polemisierte Karl Marx auf folgende Weise: „Mit der naivsten Trockenheit unterstellt er den modernen Spießbürger (…) als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner Welt nützlich, ist an und für sich nützlich.“ Was Marx damals kritisierte, zieht sich bis heute durch die gesamte Entwicklung des Liberalismus, die Denkschule, die den Menschen staatlicher Bevormundung entziehen will.

Es ist eine privilegierte Sicht auf die Welt, die die Existenz von verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft nicht erfassen kann oder will. Wenn ich so tue, als bestünde die Gesellschaft nur aus einer einzigen Gruppe, dann ignoriere ich innergesellschaftliche Machtverhältnisse – beispielsweise auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt. So eine Idee ist einfacher zu verteidigen für diejenigen, die bevorzugt werden gegenüber Mitbewerbern aus anderen gesellschaftlichen Gruppen.

Auch Marx hat einen bürgerlichen Hintergrund

Das Individuum des methodologischen Individualismus ist weiß, männlich, heterosexuell, christlich(-säkular) und bürgerlich. So wie auch Jeremy Bentham. Und auch Marx hatte einen bürgerlichen Hintergrund. Aber seine Analyse, man mag von ihr halten, was man will, richtete sich letztlich darauf, dass Menschen den Verhältnissen unterschiedlich ausgesetzt sind: Die einen haben das Eigentum an den Produktionsmitteln, die anderen nicht – und das ändert alles.

Es stimmt nicht ganz, dass der Liberalismus keinen Machtbegriff hätte. Einige wichtige Liberale des 20. Jahrhunderts – etwa Walter Eucken, aber auch Friedrich von Hayek – hatten gerade das Anliegen der Machtreduktion. Sie waren skeptisch gegenüber dem starken Staat und glaubten an die Möglichkeit der Machtstreuung durch den Markt. Aber für die Dominierung einer gesellschaftlichen Gruppe durch die andere blieb in ihrer Analyse nur wenig Raum. Auch dieser Liberalismus des 20. Jahrhunderts hat also den „Normalmenschen“ seiner Ahnen aus dem 19. Jahrhundert übernommen. Eine Position, die man früher einmal als „links“ bezeichnet hätte, müsste machtkritisch diskutieren, welche Schwächen, Stärken und blinden Flecken ein internationales politisches und wirtschaftliches System hat, das – natürlich nicht nur – von einem solchen Menschenbild geprägt ist.

Die Formel lautet: liberal gleich demokratisch

Der Schriftsteller Raul Zelik schreibt in seinem Aufsatz „Lieber frei als liberal“, dass viele Linke sich derzeit als „Liberale“ bekennen würden. Und es stimmt: Ständig geht es um die „liberale“ Demokratie, die „liberale“ Weltordnung. Die Formel lautet: liberal gleich demokratisch. Angesichts autoritärer Regime, die sich weltweit herausbilden, scheint das ein Stück weit gerechtfertigt zu sein. Allerdings schadet eine so wenig differenzierte Haltung der Verteidigung der Demokratie vielleicht mehr, als das es ihr hilft. „Verspießbürgerlichen“ wir sie nicht – „mit naivster Trockenheit“ –, wenn wir uns plötzlich alle als Liberale gegen die Rechtsgerichteten stellen? Ein anderer Schulterschluss muss möglich sein. In der Abwehr des Autoritären darf gerade die Kunst der Kritik nicht verlernt werden.

Der Liberalismus – allerdings nicht nur er – sagt, alle Menschen sind gleich an Würde, was verteidigt werden muss. Aber er unterschlägt häufig, dass diese Würde der Menschen unterschiedlich ausgesetzt und deshalb unterschiedlich gefährdet ist. Hier wäre es höchste Zeit für entsprechende Strömungen im Liberalismus, sich machtkritisch neu zu erfinden. Für die Verteidigung der Demokratie ist im Übrigen ein Bekenntnis zu den Verletzlichen wertvoller als zu den Liberalen.

Deniz Utlu

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