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In der Wirtschaft läuft es gut, aber viele Langzeitarbeitslose haben dennoch keine Chance.

© Sebastian Gollnow,dpa

Hartz IV: Erst die Arbeit, dann die Vision

Viele Arbeitnehmer kommen seit Jahren nicht aus Hartz IV heraus. Ihnen muss zuerst die Aufmerksamkeit der Politik gelten. Ein Kommentar.

Schluss mit Hartz IV, fordern SPD-Politiker dieser Tage, es brauche endlich einen Bruch mit der Politik der vergangenen 15 Jahre. Und es ist bemerkenswert, welche Dynamik die Debatte gerade entfaltet. Noch in den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD spielte die Frage nach der Zukunft des Hartz-IV-Systems kaum eine Rolle. Doch nun wird sichtbar, dass es ein tiefer sitzendes Bedürfnis gibt, die ganze Arbeitsmarktreform noch einmal gründlich auf den Prüfstand zu stellen. Und das nicht nur in der SPD.

Dass sich Teile der SPD mit Hartz IV schwertun, ist wenig erstaunlich. Seit Gerhard Schröder als Bundeskanzler die Reform auf den Weg brachte, richtet sich die Wut der Enttäuschten vor allem gegen die Sozialdemokraten. Aber auch in der Gesellschaft macht sich mittlerweile ein Unbehagen breit, einfach so weiterzumachen. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland so gering wie nie zuvor, doch zugleich haben viele auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance. Es gibt eben nicht nur das deutsche „Jobwunder“, sondern auch diejenigen, die seit Jahren nicht aus Hartz IV herauskommen.

Nicht eingelöste Versprechen

Die Diskussion gewinnt auch an Fahrt, weil nach dem Streit über die Tafeln wieder genauer hingeschaut wird, wie es denen geht, die in unserer Gesellschaft an der Armutsgrenze leben. In erster Linie auf staatlich finanzierte gemeinnützige Jobs zu setzen, wie Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vorschlägt, hilft ebenso wenig, wie nach der Abschaffung von Hartz IV zu rufen – ohne zu sagen, was an die Stelle treten soll. Das Versprechen, das mit Schröders Sozialreform gegeben wurde, war ja nicht falsch: Durch Fördern und Fordern sollte jeder die Chance bekommen, wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen.

Das Problem ist, dass dieses Versprechen für zu viele nicht eingelöst wurde. Das hat mehrere Gründe: Die Jobcenter sind seit Jahren unterfinanziert, ihnen fehlt Geld für Betreuung und Qualifizierung. Die Hartz-IV-Regelungen sind so kompliziert, dass die Hälfte der Mitarbeiter damit beschäftigt ist, Leistungen zu berechnen, statt sich um die Vermittlung zu kümmern. Auch die Sanktionspraxis gehört überarbeitet, gerade die heftigen Einschnitte für junge Menschen richten mehr Schaden als Nutzen an. Und ob der Regelsatz wirklich ausreicht, darüber lässt sich trefflich streiten. Reichlich Baustellen für die neue Regierung.

Zu viele Jugendliche ohne Abschluss

Wer etwas gegen Armut in diesem Land tun will, muss an vielen Schrauben drehen. Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass Menschen gar nicht erst in Hartz IV landen. Solange jedes Jahr 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen, wird das nicht funktionieren. Aber auch Arbeitnehmer brauchen mehr Unterstützung, wenn sie in der Arbeitswelt Schritt halten wollen, etwa durch Weiterbildung.

In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden Digitalisierung und technologische Veränderungen dazu führen, dass viele Jobs wegfallen, darunter nicht nur einfache Tätigkeiten. Die klassische Arbeitsgesellschaft kommt dann vielleicht an ihr Ende – und mit ihr die Logik des Förderns und Forderns. Gut möglich, dass dann ein Systemwechsel notwendig wird. Jetzt schon eine Vision zu entwickeln, wo es hingehen könnte, ist richtig. Doch in dieser Wahlperiode stehen genügend andere Aufgaben an. Sie wegen einer Grundsatzdebatte aufzuschieben, wäre fahrlässig.

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