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Taavi Kotka, IT-Beauftragter der estnischen Regierung und digitaler Vordenker, bei einem Vortrag in diesem Jahr. In der Hand hält er seine eigene ID-Karte, die "E-residency-card" kommt ohne Foto.

© AFP

Estland: Erster Staat schafft digitale Bürgerschaft

Das Land ist klein und hat eine niedrige Geburtenrate. Estland will deshalb jetzt virtuell wachsen - und schafft als erstes Land der Welt eine "e-residency".

Von Anna Sauerbrey

Als erstes Land der Welt wird Estland am Montag eine virtuelle Staatsbürgerschaft einführen. Inhaber der „e-residency“ erhalten eine digitale Identität. Diese digitale Identität besteht aus einer ID-Nummer verbunden mit einer Chip-Karte und einer PIN, wie sie bereits heute für alle Esten als Personalausweis verpflichtend ist. Die digitale estnische Identität für Ausländer erlaubt es, Dokumente digital zu unterschreiben, Unternehmen in Estland zu gründen, Steuern zu zahlen und Steuererklärungen abzugeben sowie Bankkonten zu eröffnen – wiederum alles über das Internet. Bürgerrechte wie das Wahlrecht sind damit allerdings nicht verbunden.

"Wir suchen neuen Kunden", sagt Estlands digitaler Vordenker, Taavi Kotka

Estland ist mit nur 1,3 Millionen Einwohnern eines der kleinsten Länder der Welt. Mit der E-Bürgerschaft verfolge das Land deshalb zwei Ziele, sagte Taavi Kotka, digitaler Vordenker und IT-Beauftragter der estnischen Regierung, dem Tagesspiegel. Das erste Ziel sei Wirtschaftswachstum. Da das Land aufgrund seiner schwachen demographischen Entwicklung und einer geringen Einwanderung kaum realökonomisch wachsen könne, müsse man die Unternehmen eben virtuell einbinden. „Es ist wie in der Wirtschaft: Wenn ein Unternehmen mehr verkaufen will, muss es sich mehr Kunden suchen“, so Kotka. „Physisch wollen unsere Kunden nicht hierher kommen. Also holen wir sie digital hierher.“ Zweitens führe man die virtuelle Staatsbürgerschaft auf Wunsch estnischer Unternehmer ein. Estnische Tochterunternehmen internationaler Konzerne hätten sich gewünscht, etwa das unkomplizierte digitale Signatursystem auch bei Verträgen mit ausländischen Partnern oder ihren Mutter-Unternehmen nutzen zu können.

Estland ist eines der digitalsten Länder dieser Welt

Hintergrund dürften aber auch die estnischen Parlamentswahlen im März 2015 sein. Die Regierung steht unter Innovationsdruck – doch es fällt schwer, den Digitalisierungsgrad im Inland noch zu erhöhen. Estland gilt als eines der digital am weitesten entwickelten Länder der Welt. Die elektronische ID-Karte gibt es in Estland bereits seit 2002. Heute können die Bürger mit ihrer digitalen Unterschrift praktisch alle öffentlichen und privaten Geschäfte online abwickeln: Sie erhalten ihre Rezepte vom Arzt elektronisch, können Arbeitsverträge elektronisch unterschreiben, elektronisch ein Parkticket ziehen und ihre Steuererklärung machen. Seit 2005 können sie über das Internet wählen. Seit 2007 sind alle diese Dienstleistungen auch für Smartphones verfügbar. In Deutschland gibt es den elektronischen Personalausweis seit 2010. Anders als in Estland wird die digitale Authentifizierung, die er ermöglicht, bislang aber kaum genutzt. Zum einen, weil weder Staat noch Unternehmen die Möglichkeit anbieten. Zum anderen, weil immer wieder Sicherheitsbedenken gegen die Technologie aufkamen.

Interessenten sind Unternehmer und digitale Enthusiasten 

Wer digitaler Bürger des Landes werden möchte, muss zunächst noch einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. „Wir starten mit einer Beta-Phase“, sagt Taavi Kotka. „Solange müssen Interessenten noch persönlich nach Estland reisen und sich bei einer Grenzkontrollstelle melden.“ Dort muss ein Antrag ausgefüllt werden, die Identität der Person wird überprüft und ein biometrisches Foto gemacht sowie die Fingerabdrücke genommen. Interessenten werden dann von den estnischen Behörden überprüft, etwa in den Dateien von Europol. „Aber nach ein paar Monaten wird es bequemer“, verspricht Taavi Kotka. Der Antrag soll ab März auch in estnischen Botschaften im Ausland möglich sein. Die estnische Botschaft in Berlin hat allerdings noch keine konkreten Anweisungen zur Antragstellung bekommen.

Antragsteller müssen vorerst nach Estland reisen

Trotz des unkomfortablen Verfahrens haben sich nach Angaben der estnische Staatskanzlei bis zum Wochenende rund 12.000 Interessenten. „Die Interessenten kommen aus aller Welt“, sagt Staatskanzleichef Siim Sikkut, die meisten aber kämen aus den USA, gefolgt von Menschen aus europäischen Ländern. Etwa zwei Drittel seien Unternehmer, andere aber auch digitale Enthusiasten. Mit 21 Prozent hat Estland eine vergleichsweise niedrigen Unternehmenssteuersatz und liegt in den Steuer-Rankings auch ansonsten oft vor Deutschland, etwa was die Bearbeitungszeit der Steuererklärungen angeht.

Am Montag wird die erste E-Bürgerschaft feierlich verliehen 

Die erste E-Bürgerschaft wird am Montag in Tallinn feierlich verliehen, an einen „alten Freund Estlands“, wie Taavi Kotka sagt, den britischen Journalisten und Autor Edward Lucas, der für den „Economist“ arbeitet und Autor russlandkritischer Bücher ist.

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