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Ist die Vier-Tage-Woche produktiver?

© imago images/Westend61

Großbritannien erprobt die Vier-Tage-Woche: Freitag ist der neue Samstag

Mehr Freizeit, mehr Produktivität? Bei einem Pilotprojekt testen Tausende Briten die Viertage-Woche.

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John Boot ist, in der Industriegeschichte Großbritanniens, unvergessen geblieben. Der Mann, der einmal das Pharmazie-Imperium Boots leitete, gilt heute als Vorkämpfer für eine neuartige Arbeitszeit. Boot nämlich wurde Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum „Pionier der Fünftage-Woche“ auf der Insel. Angesichts klarer Überproduktion seines Betriebs, auf dem Höhepunkt der „Großen Depression“ jener Jahre, beschloss er, die Produktion zu verringern, ohne Arbeiter zu entlassen.

Also teilte er den 5000 Werktägigen mit, sie bräuchten nicht mehr, wie bis dahin üblich, für den Samstagvormittag zur Arbeit zu erscheinen. Ihr Lohn werde ihnen aber trotzdem voll ausbezahlt.

Statt einer Fünfeinhalb-Tage-Woche arbeiteten die Boots-Leute ohne Einkommensverluste nur noch fünf Tage die Woche. Nach und nach zogen andere Unternehmen nach, die Fünftage-Woche setzte sich erst bei den Briten durch – und dann auch anderswo in der westlichen Welt.

Eine speziell angeordnete Studie, erstellt vom Birmingham-Professor und Bergbau-Ingenieur Sir Richard Redmayne, kam zum Schluss, dass die damalige Reform überwiegend positive Folgen hatte, fürs Kapital ebenso wie für die Arbeiterschaft.

Die Extra-Freizeit, die den Mitarbeitern der betreffenden Betriebe zur Verfügung stand, resultiere in besserer Gesundheit, einer zufriedeneren Belegschaft und weniger Abwesenheit von der Arbeit, fand die Untersuchung. Bei Boots habe die Erholungsmöglichkeit des verlängerten Wochenendes physisch wie psychisch zu einer „Verbesserung der persönlichen Kondition und der Arbeitsfreude geführt“.

Fast ein Jahrhundert später beginnt man sich in Boots Heimat nun wieder an jenen Wandel zu erinnern. Mittlerweile sei es Zeit für einen neuen und noch radikaleren Schritt, haben gleich mehrere reformwillige Unternehmen erklärt.

Pilot-Projekt

Diesen Monat ist auf der Insel ein Pilot-Projekt angelaufen, das Aufschluss darüber geben soll, ob sich die Arbeitswoche weiter verkürzen ließe. Die Zeit sei gekommen, finden die Beteiligten, von der Fünf- zur Viertage-Woche überzugehen. Freitag soll der neue Samstag werden, ein zusätzlicher freier Tag. Oder die Arbeit wird im gleichen Umfang anders über die verschiedenen Tage der Woche verteilt. Siebzig kleinere und mittlere Firmen, mit insgesamt über 3300 Beschäftigten, tragen den Versuch mit, der insgesamt sechs Monate laufen soll.

Organisiert worden ist das Projekt von der gemeinnützigen Gruppe „4 Day Week Global“, in Zusammenarbeit mit Forschern der Universitäten Oxford, Cambridge und Boston und dem Thinktank „Autonomy“. Bei ihrer Idee sprechen die Projekt-Teilnehmer von einem „100:80:100 Modell“. Das soll bedeuten, dass die Beteiligten 100-prozentigen Lohn für 80 Prozent der Arbeit erhalten, solange sie sich zu 100-prozentiger Produktivität verpflichten.

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„Erst mal war ich ja misstrauisch, als ich hörte, dass man für weniger Arbeit denselben Lohn bekommen soll“, hat es der Fish-and-Chips-Teamleiter Wyatt Watts bei „Platten’s“ in Norfolk beschrieben. Aber mittlerweile begreife er, dass er viel besser arbeite, wenn er „nicht so kaputt“ sei und mehr Zeit zum Auftanken habe. Auch andere Teilnehmer des Projekts fühlen sich, wenn sie an die Arbeit gehen, fitter als bisher und weniger erschöpft.

In diesem Punkt steht das Viertage-Woche-Projekt ganz in der Tradition der John-Boot-Reform des vorigen Jahrhunderts. Während damals die Massenarbeitslosigkeit den Anstoß zur Verkürzung der Arbeitszeit gab, ist man diesmal direkt an mehr Lebensqualität, mehr Energie, einem frischen Blick auf die Arbeit interessiert.

Sarah O’Connor, Arbeits-Expertin der Financial Times, erklärt, immerhin habe sich in den letzten drei Jahrzehnten der Charakter der Arbeit stark verändert. Damit meint O’Connor die Einführung neuer Technologien, die ein neues Maß an Konzentration verlangen, den vermehrten Druck in vielen Branchen, höhere Ansprüche der Kundschaft, Zwang zu schnellerer Produktion und Lieferung und die Intensivierung der Arbeit überall. Dazu komme, fügt der Schauspieler Stephen Fry an, dass durch Covid und durchs Arbeiten von zu Hause das traditionelle Arbeitsleben ganz neu aufgestellt worden sei. Fry, der sich der Viertage-Woche-Kampagne als prominentes Model zur Verfügung gestellt hat, verweist auch darauf, dass durch weniger Arbeitstage in Firmen oder Büros Pendelzeit und Schadstoff-Ausstoß eingeschränkt werden und mehr Zeit für die Familie verfügbar ist.

Steigende Produktivität

Andrew Barnes, der die „4 Day Week Global“-Kampagne aus der Taufe hob, meint dazu: „Im Grunde benutzen wir Arbeitsweisen, die im Zusammenhang mit sich monoton wiederholenden Arbeitsgriffen der Fertigungs-Industrie vor hundert Jahren entwickelt wurden. Die wenden wir aufs 21. Jahrhundert an. Das ergibt absolut keinen Sinn.“ Barnes hat die Vermutung ausgesprochen, dass in fünf Jahren eine Mehrheit britischer Unternehmer mit kürzeren Arbeitszeiten operieren werde. Seine Kampagne verweist darauf, dass es bereits einzelne Fälle gibt, in denen so etwas offensichtlich funktioniert.

Ein Call Center in Glasgow hat schon vor längerem für seine 350 Mitarbeiter eine Viertage-Woche eingeführt. Seit der Einführung der reduzierten Tage, hat Call-Centre-Direktorin Lorraine Gray erklärt, habe man bei „Persuit Marketing“ die Produktivität um fast 30 Prozent steigern können. Sehr viel weniger Mitarbeiter als zuvor kündigten nun jedes Jahr. Und Krankmeldungen seien „fast auf null“ zurück gegangen. Früher, meint Gray, hätten sich Leute krank gemeldet, wenn sie nur ein paar Stunden brauchten, um etwas zu erledigen, um einen Termin wahrzunehmen. Nun hätten sie freie Tage extra, um diese Dinge zu tun.

Skepsis gibt es auch. Nicht in allen Wirtschafts-Branchen sei so etwas durchführbar, glauben Ökonomen wie Robert Skidelsky: „Gesetzlich lässt sich das jedenfalls nicht regeln, landesweit.“ Und in einer Zeit enorm steigender Lebenshaltungskosten und gleichzeitig sinkender Kaufkraft stehe zu erwarten, dass Leute zum Erhalt ihrer Lebensstandards eher mehr als weniger Arbeit suchen würden: „Vor allem in der Gig-Ökonomie, wo man oft mehrere Jobs zum Überleben braucht.“ Peter Nonnenmacher

Peter Nonnenmacher

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