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Vor dem Oberlandesgericht in München gibt Ayse Yozgat unter Tränen ein Statement ab.

© imago/Michael Trammer

Vor dem Urteil in München: Für die Opfer des NSU geht das Leid nie zu Ende

An diesem Mittwoch soll im NSU-Prozess das Urteil verkündet werden. Unabhängig von der Entscheidung: Die Opfer des rechten Terrors werden auch danach keine Ruhe finden.

Von Frank Jansen

Am Mittwoch, wenn im NSU-Prozess das Urteil verkündet werden soll, ist es auf den Tag genau fünf Jahre her, dass Pinar Kilic in der Hauptverhandlung aufgetreten ist. Die Türkin führte das Lebensmittelgeschäft in der Bad-Schachener-Straße in München, in dem am Vormittag des 29. August 2001 ihr Ehemann Habil getötet wurde.

Die NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos schossen ihm zweimal in den Kopf. Der türkische Gemüsehändler starb noch am Tatort. „Er hat auf der Hand ein Brot gehabt, wie sie ihn erschossen haben“, sagt die Witwe am 11. Juli 2013, es ist der 22.Verhandlungstag, als Zeugin im Oberlandesgericht München. Sie ruft in den Saal: „Wie können solche Sachen passieren?“ Die Frau ist aufgewühlt, sie weiß nicht wohin mit ihrem Schmerz. „Er wollte Geld verdienen, nichts anderes!“ Die verzweifelte Witwe ringt mit sich selbst. Schweigen im Saal. Selbst Beate Zschäpe, sonst Pokerface par excellence, wirkt doch etwas nachdenklich.

Das Schicksal von Pinar Kilic wird auch nach dem Urteil unerträglich sein. Die Türkin gehört zu den Opfern des NSU-Terrors, deren Leben für immer ruiniert ist. Ob Zschäpe nun die Höchststrafe bekommt oder nicht – für Pinar Kilic ist seit dem 29. August 2001 keine Rückkehr in die Normalität möglich. Wie für viele der Hinterbliebenen und auch der überlebenden Opfer.

Im Prozess sind viele Fragen offen geblieben

Die Täter hätten der Familie großen Schaden zugefügt, sagt Kilic. „Sie haben meinen Mann ermordet, meinen Freundeskreis kaputt gemacht, alles, mit der Finanzierung, alles kaputt gemacht“. Kilic gab das Geschäft auf. Auch weil ihr der Verdacht der Polizei zu schaffen machte, ihr Mann könnte in kriminelle Umtriebe verstrickt gewesen sein. Freunde wandten sich ab. Seit dem Mord ist Kilic in psychiatrischer Behandlung. Dass sie am Mittwoch zum Urteil kommt, sei kaum zu erwarten, heißt es in ihrer Umgebung.

Die Witwe des Gemüsehändlers ist nicht das einzige Opfer, dessen Leid auch am Mittwoch kein Ende nehmen wird. Nicht nur, weil im Prozess viele Fragen zu den zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen der Terrorzelle offen geblieben sind.

Die Hinterbliebenen wissen bis heute nicht, warum ausgerechnet ein Mitglied ihrer Familie sterben musste. Und die Qualen der Angehörigen der zehn Ermordeten sind nur ein Teil der Opfergeschichte im NSU-Komplex. An dem Terror leiden bis heute auch Menschen, die in der Öffentlichkeit weniger bekannt sind.

Die Namen der NSU-Opfer stehen auf einer Gedenktafel in Kassel.
Die Namen der NSU-Opfer stehen auf einer Gedenktafel in Kassel.

© Uwe Zucchi/dpa

Am 20. Januar 2015, es ist der 175. Prozesstag, sagt Sükrü A. aus. Er saß als Kunde in dem Friseursalon in der Kölner Keupstraße, vor dem am 9. Juni 2004 die Nagelbombe von Böhnhardt und Mundlos hochging. Die Neonazis hatten den Sprengsatz, gespickt mit etwa 800 Zimmermannsnägeln, in einer Box deponiert, sie mit einem Fahrrad abgestellt und dann den Fernzünder ausgelöst.

Die Explosion war gewaltig, einige Nägel flogen sogar über Hausdächer. Mehr als 20Menschen wurden verletzt. „Es waren mehrere Nägel und Glassplitter in meinem Körper“, sagt Sükrü A. im Prozess. Auch sein Kopf wurde getroffen, auf der Stirnglatze ist eine große Narbe zu sehen. „Ich habe Schwindelgefühle, ich kann nachts nicht schlafen, ich kann nicht in die Bevölkerung gehen, da krieg ich Panikattacken, ich schwitze.“ Die Aussage ist für den Mann Ende 50 eine enorme Belastung. Er werde immer noch von einem Psychiater behandelt, arbeiten könne er nicht mehr. „Die Lebensqualität ist total runtergegangen“, sagt Sükrü A.

Viele Betroffene sind heute noch in Therapie

Wie ihm geht es weiteren Opfern aus der Keupstraße. Und selbst Zeugen, die den Anschlag ohne gravierende Verletzung überlebt haben, berichten in München von anhaltendem Trauma.

Psychisch geschädigt sind auch Angestellte der von Böhnhardt und Mundlos überfallenen Bankinstitute. Die Terroristen hatten 14 Filialen von Post und Sparkasse angegriffen. Hannelore M. (Name geändert) hat es besonders hart getroffen. Die ehemalige Mitarbeiterin der Sparkasse Stralsund erlebte gleich zwei Überfälle. Böhnhardt und Mundlos stürmten im November 2006 und im Januar 2007, maskiert und mit Pistolen bewaffent, in die Filiale. Beim ersten Mal erbeuteten die Neonazis 85.000Euro, als sie wiederkamen fast 170.000.

Acht Jahre nach dem zweiten Überfall, am 26. März 2015, es ist der 195. Prozesstag, sagt M. in München aus. Sie ist nervös, will aber reden. Während des Überfalls am 7. November 2006 sei sie unter ihren Schreibtisch gekrochen, sagt sie. „Ich wollte den Alarmknopf drücken, da bin ich auf die Maus gekommen, da ging mein Bildschirm wieder an. Da hab’ ich Panik bekommen, weil ich den Mann mit zwei Pistolen sah, eine hat er auf mich gerichtet. Ich bin in die äußerste Ecke gekrabbelt.“

Die Bankangestellte Hannelore M. konnte nicht mehr arbeiten

Die Räuber verschwanden dann mit ihrer Beute. Beim zweiten Überfall zwang einer der rechten Terroristen die Frau, den Tresorraum zu öffnen. „Keene Verarsche! Ich knall dich ab“, habe der Täter gesagt. Als M. nicht schnell genug das Geld übergab, schubste sie der Räuber beiseite und packte die Scheine in eine Plastiktüte. Nach dem Überfall „bin ich erstmal zusammengesackt“, sagt die Frau.

Sie versuchte nach dem Doppelschock weiterzuarbeiten, wechselte die Abteilung. Es ging nicht. Sie sei „berentet, weil ich das einfach nicht vergessen kann. In der Nacht ist es am schlimmsten“. Hannelore M. weint. Wie Pinar Kilic und Sükrü A. berichtet sie von „psychologischer Betreuung“. Und kein Ende in Sicht.

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