Politik: Gefangen von den Taliban
Auszüge aus dem Bericht des gekidnappten Journalisten Daniele Mastrogiacomo
Stand:
Nach seiner Freilassung an diesem Montag beschreibt Daniele Mastrogiacomo Verzweiflung, Todesangst und auch das Grauen, als sein Fahrer vor seinen Augen ermordet wurde. Die folgenden Abschnitte seines Berichts, für die wir seiner Zeitung, „La Repubblica“ danken, enthält vor allem Beobachtungen des Lebens und Denkens der Taliban, die er in seiner zweiwöchigen Gefangenschaft gemacht hat.
„Ich wollte nach Süden, nach Kandahar und dann nach Lashkar Gah, weil dort die Taliban herrschen und man dort die Realität, von der man uns erzählt, mit Händen greifen kann. So habe ich immer gearbeitet, im Irak oder in Somalia: Mit eigenen Augen zu sehen, zuzuhören, aufzuschreiben und zu berichten. (…) Plötzlich tauchen auf den Hügeln drei Motorräder auf, darauf drei junge Männer mit schwarzen Turbanen und dunkelgrauen Umhängen. Sie sind bewaffnet und halten uns an. Meinen Begleitern fesseln sie die Hände mit ihren Turbantüchern auf dem Rücken. Sie fesseln auch meine Hände und verbinden meine Augen. Ich werde fast verrückt, mir bleibt die Luft weg. Als es mir gelingt, die Binde abzustreifen, trifft mich der Kolben einer Kalaschnikow im Rücken. Auf den Knien hebe ich die Hände und ergebe mich. Ein zweiter Schlag trifft meinen Kopf. Mein Blut durchtränkt die Augenbinde. Sie packen mich in den Kofferraum.“
„Fünfzehn lange Tage und fünfzehn unendliche Nächte habe ich mit den Taliban gelebt, immer an Händen und Füßen gefesselt. Ich studierte sie, während wir aus denselben Brunnen tranken und dasselbe alte Brot teilten. Im Geist notierte ich mir ihre Art zu beten und auch die, sich schlafen zu legen. (…) Die Taliban sind vor allem Krieger, Leute, die es gewohnt sind, mit Waffen umzugehen, sie zu benutzen, zu reinigen, ja sie zu verehren. Fast immer sind sie ihre einzigen Gefährten. Fast alle Taliban sind jung, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Ausgebildet wurden sie in den Koranschulen, den Madrassen, die an der Grenze zu Pakistan zu Hunderten während und nach dem Dschihad gegen die Rote Armee der Sowjetunion entstanden sind. (…) Es sind arme Teufel, ohne Bildung und ohne menschliche, sexuelle und emotionale Erfahrungen. Sie sind zusammen aufgewachsen und zusammen, wie eine Herde, verbringen sie den Rest ihrer Existenz. In den Madrassen haben sie den Koran auf Arabisch auswendig gelernt. Ich hörte, wenn sie ihn laut lasen oder von Kassetten hörten, auf denen oft sanfte Musik die Verse begleitet. Die einzige Musik, die sie hören dürfen und wollen.“
„Viele, die religiösen Führer voran, haben versucht, mich zu bekehren. Sie flüsterten mir zu, es sei noch Zeit, umzukehren, und auf das Paradies zu hoffen, das unserem irdischen Leben folgt. Das Thema wurde immer wieder angeschnitten während der langen Nachmittage, die dem Sechs-Uhr-Gebet vorausgingen, des vierten der fünf Gebete, die der sunnitische Islam vorschreibt. Es ist das womöglich wichtigste und muss nach Mekka gewandt gesprochen werden. Die Richtung wurde oft aufs Geratewohl mit Militärkompassen festgestellt, aber das Gebet mit einer Inbrunst zelebriert, die keinen Zweifel kennt. (…) Sie respektieren mich, aber sie verurteilen mich. Ich versuche zu erklären, dass ich ein Mann mittleren Alters bin und nicht fähig, ihr Leben zu führen. Sie nicken, sagen aber, der Dschihad sei eben so. Dass sie für den Triumph des Islam kämpfen, für die einzige Religion, die einem menschlichen Wesen angemessen sei. Mein Essen bekomme ich auf einem gesonderten Teller. Ajman (M.s Übersetzer, Anm.) erklärt mir, dass sie sich so von mir Ungläubigen distanzieren. Es ist nicht meine Schuld, dass ich kein Muslim bin, aber es hindert sie an jedem körperlichen Kontakt mit mir.“
„Die Taliban, die mich bis an Pakistans Grenze brachten, waren Kämpfer. Richtige Soldaten, die Tag und Nacht Überfälle gegen die Koalitionstruppen und die afghanische Polizei planten. Fünfzehn blutjunge Leute, angeführt von einem kleinen, nervösen Kommandanten, der seine Autorität durch trockene Befehle und halsbrecherische Fahrten mit seinem Land Cruiser unter Beweis stellte. (…) Ein religiöser Führer sagte den Jungen, wann es Zeit war, sich an Allah zu wenden. Kurz vor dem Morgengrauen wurden wir geweckt und aufgefordert, uns zu reinigen.Vor dem Gebet musste man sich die Hände, das Gesicht, Ohren und Füße waschen, manchmal zwei-, auch dreimal, weil jede Unreinheit entfernt werden muss. Vieles war oft schmutzig und staubig, aber Wasser, das Grundelement jeden Tages, fehlte nie. Sogar nach dem Mord an meinem Fahrer reinigten die Jungen ihre Kleider sorgfältig von den Blutflecken, die praktisch überall waren. Penibel, fast manisch rieben sie wortlos das Blut ihres Opfers weg. Eine gespenstische Szene, die sofort von Scherzen und Gelächter abgelöst wurde. Der Brechreiz, den ich spürte, als ich zusah, begleitete mich in meine Albträume. “
Übersetzt von Andrea Dernbach
Daniele
Mastrogiacomo (52) arbeitet für die italienische Zeitung „La Repubblica“. Er wurde vor zwei Wochen mit dem Angebot, einen hohen Taliban interviewen zu können, in einen Hinterhalt gelockt. Seinem Fahrer wurde vor seinen Augen die Kehle durchgeschnitten. Sein Dolmetscher ist noch nicht frei. Mastrogiacomo wurde wohl gegen gefangene Taliban ausgetauscht. Irgendwie, schreibt er im Bericht für „Repubblica“, dürfte ihm geholfen haben, dass er in Pakistan geboren wurde und auch einen islamischen Namen hat: Amir (Friedensfürst). Tsp
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