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Gender-Forscherin von Braun: "Hundert Jahre sind eine sehr kurze Zeit"

Christina von Braun ist Filmemacherin, Autorin und Professorin für Kulturtheorie mit dem Schwerpunkt Kultur und Geschichte an der HU. Sie gründete dort den Studiengang Gender Studies. Ein Interview.

Hundert Jahre Frauentag, aber „Feministin“ ist noch immer ein Schimpfwort. Sehr weit haben es Frauen wohl nicht gebracht?

Wenn man es daran misst, scheint es so. Aber das gilt nicht weltweit. In Skandinavien gibt es kaum einen Politiker, der sagen würde, dass er kein Feminist ist. Auch in Amerika ist das Wort nicht so verpönt. Bei uns dagegen kann man in akademischen Kreisen kaum „Gender“ sagen, ohne dass dies Anlass zu einem Herrenwitz gibt. Oder auch zur Bemerkung, das sei nicht seriös, Geschlechterfragen seien nichts richtig Wissenschaftliches.

Woran liegt das?

Sehr lange hat sich alles darum gedreht, Frauen in ihre Rechte zu setzen, im Beruf, in der Öffentlichkeit, ebenso wie in der Geschichte. Wir haben nach dem vergessenen Anteil der Frauen darin gefragt. In den letzten zehn oder 20 Jahren – in der Wissenschaft, aber nicht nur da – ist die Frage in den Vordergrund gerückt: Wie kam es, dass dem weiblichen Körper 2000 Jahre lang geistige Berufe vorenthalten wurden, ihre Fähigkeit bestritten wurde, mit Geld umzugehen oder ein Rechtsbewusstsein zu haben? Und warum hörte das um 1900 plötzlich auf, warum wurden danach Frauen zu den Universitäten zugelassen und bekamen das Wahlrecht? Die Antworten darauf stellen die Fundamente der Wissenschaft infrage. Daher der Widerwille.

Welche Antworten gibt es auf die Frage?

Eine ist, dass seit damals die Kontrolle des weiblichen Körpers ihre Bedeutung für die Vererbung verloren hat. Das hatte auch Konsequenzen für das ökonomische Erbe. Erst um 1875 wusste man genau um die Zeugung. Man konnte erstmals die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle unter dem Mikroskop beobachten. Daraufhin entstanden einerseits Eugenik und die Idee einer Reproduktion im Labor und andererseits die Sexualwissenschaft, die sich für den Sexualtrieb ohne Fortpflanzung interessierte. Das Interesse an Homosexualität hatte damit zu tun.

Und warum berührt diese Antwort die Grundlagen der Wissenschaft?

Der biologische Körper erschien nicht mehr so eindeutig. So etwas wie die Behauptung, Rationalität sei an den männlichen Körper gebunden, Irrationalität an den weiblichen war schwer zu halten. Das macht es jüngeren Männern auch schwer, gegen die wachsende Konkurrenz gut ausgebildeter Frauen zu argumentieren, vor allem wenn sie Mühe haben, sich vom alten – und ja auch bewährten – Bild von Männlichkeit zu lösen. Schließlich lief dieser Mentalitätswechsel um die Wende zum 20. Jahrhundert in einem historisch beispiellosen Tempo ab. Aber es gibt auch Männer, die nicht in erster Linie Konkurrenz fürchten, sondern die innovative Kraft sehen, die in diesem Wechsel steckt.

Ist Gleichstellung kein Thema mehr?

Die Gleichstellungsfrage bleibt wichtig. Sie bleibt es, solange Macht, Berufe, Reichtum ungleich zwischen Männern und Frauen verteilt sind. Aber daneben sind eben ganz andere Fragen aufgetaucht, die mit den historischen Hintergründen zu tun haben.

Auch in der Debatte um den Islam geht es heute zentral um Frauen und ihre Rolle.

Unsere Gesellschaft hat sich den von Frauen propagierten Emanzipationsdiskurs so weit angeeignet, dass er jetzt manchmal gebraucht und oder auch missbraucht wird, um die Konfrontation mit der nichtwestlichen Welt zu munitionieren: Seht euch unsere befreiten Frauen an, unsere Welt ist die bessere. Sogar der Papst warnt Frauen vor Ehen mit Muslimen, weil sie Unterdrückung riskierten – das Oberhaupt einer Kirche, die bis heute keine Frauen zum Priesteramt zulässt.

Das mag kalte Interessenpolitik sein. Aber wie erklären Sie sich, dass auch Veteraninnen der Frauenbewegung so aktiv und heftig antimuslimisch auftreten?

Das hat eine lange Tradition. Schon die Europäerinnen, die im 19. Jahrhundert den Orient bereisten, schauten auf die dortigen „dummen“ und unterdrückten Frauen herab, obwohl in Ägypten Ärztinnen ausgebildet wurden, was in Europa zu dieser Zeit undenkbar war. Es war ein Stück Selbstermächtigung. Die eigene rechtliche und soziale Situation in Europa konnte ausgeblendet werden. Auch heute spielt es für die Diskussion um die unterdrückte Muslimin praktisch keine Rolle, dass die Hälfte der Studierenden im Iran Frauen und 60 Prozent der algerischen Richter weiblich sind.

Seit den Orientreisenden sind doch mehr als 100 Jahre Auseinandersetzung mit Diskriminierung vergangen. Haben Feministinnen die eigenen Lektionen vergessen?

Ich glaube, da spielt Selbstvergewisserung darüber, wer „wir“ sind, eine große Rolle. Auch auf Seiten der Frauen. Daneben gibt es den Wunsch, auch einmal auf der anerkannten Seite zu stehen, an der Macht teilzuhaben – nach so vielen Jahren des Einsatzes für Frauenrechte, in denen man am Rand stand und nur Spott und Herabsetzung kassierte.

Ist das nicht verständlich?

Sicher. Aber ich selbst fühle mich wohler in der Randposition. Das ist natürlich auch einfacher als zur Zeit der Suffragetten, die dafür ins Gefängnis kamen. Vom Rand aus auf die Gesellschaft zu schauen, schärft den Blick. Heute wird dieser Blick auch als Ressource anerkannt.

Eine anerkannte Ressource zu sein, das hätte die Frauenbewegung also geschafft?

Ganz sicher. Die interessanteren Ansätze der Sozial- und Geisteswissenschaften verdanken Frauen sehr viel. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat schon vor 25 Jahren gesagt, dass der wichtigste Paradigmenwechsel in der Wissenschaft der Geschlechterforschung zu verdanken ist. Von hier werden noch viele Anstöße kommen. Hundert Jahre sind eine sehr kurze Zeit.

Das Gespräch führte Andrea Dernbach.

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