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Politik: Literatur ohne Last

Von Harald Martenstein

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In Leipzig ist Buchmesse. Und Günter Grass gibt wieder Interviews. Wieso verschwindet eigentlich der Typus des „engagierten Autors“? Warum gibt es keinen neuen Grass, Böll, Giordano oder Enzensberger? Autoren, die ihren 70. Geburtstag noch nicht gefeiert haben, konzentrieren sich heute meist aufs Bücherschreiben, mit öffentlichen Stellungnahmen oder politischen Ratschlägen halten sie sich zurück.

Der Schriftsteller als moralisch-politische Instanz ist eine Erscheinung der ersten Nachkriegsjahrzehnte gewesen. Politik und Journalismus waren, als moralische Instanzen, durch die Nazizeit schwer beschädigt, die Kirchen waren ramponiert, die Literatur hatte das Desaster besser überstanden. Fast alle bedeutenden deutschen Autoren waren 1933 immerhin gegen die Nazis gewesen, zumindest waren sie nicht ihre Propagandisten. Außerdem war in der Blütezeit des Engagements, in den 50er bis 70er Jahren, die Literatur wichtiger als heute. Das Fernsehen war noch nicht so mächtig. Die Rolle des „Weisen“, des gebetenen oder ungebetenen Ratgebers, kennen die meisten Kulturen, in Deutschland fiel sie vorübergehend den Schriftstellern zu. Heute würden, sagen wir, ein Ingo Schulze, ein Georg Klein oder eine Antje Rávic Strubel sich beinahe lächerlich machen, wenn sie mit erhobenem Zeigefinger den Grass oder den Böll zu geben versuchen. Sie gehören zu den wichtigen deutschen Gegenwartsautoren, aber wer kennt sie schon, welche Autorität besitzen sie? Deswegen werden Moralbücher heute von Leuten wie Peter Hahne oder Ulrich Wickert geschrieben. Und sollten sich, vor der nächsten Wahl, in einer Wählerinitiative zugunsten einer Partei Thomas Gottschalk, Günther Jauch, Anne Will und Sandra Maischberger zusammenfinden, dann wäre dies ein Faktor, der die Wahlen zumindest mitentscheidet.

Ich glaube, für die Literatur ist es ganz gut, dass sie diese Last los ist. Gute Bücher werden sowieso eher aus dem Gefühl der Ungewissheit geschrieben als der Gewissheit des Besserwissens. Manche Werke von Grass oder Böll sind von dem Gewicht ihrer politischen Fracht regelrecht zermalmt worden. Literatur muss nicht unpolitisch sein, aber sie muss sich auch Ratlosigkeit, Uneindeutigkeit, Verwirrung, sogar Verantwortungslosigkeit und Unmoral leisten dürfen. Die Autoren wissen es halt auch nicht besser, sie drücken es manchmal nur besser aus. Wie man aber richtig lebt, gut regiert und perfekt dekantiert, erklärt uns allen ja zum Glück schon Ulrich Wickert.

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