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US-Wahl

© Illustration: Martha von Maydell, mvmpapercuts.com

Politische Bildung in den USA: Ahnungslos und abgehängt

Wie der weit verbreitete Mangel an staatsbürgerlichen Grundkenntnissen die Demokratiefähigkeit der Amerikaner untergräbt. Ein Essay.

William Collins Donahue ist Cavanaugh Professor of the Humanities an der University of Notre Dame in Indiana. Der Germanist leitet außerdem die
Initiative for Global Europe an der Keough School of Global Affairs. Tilman Schröter und Gregor Dotzauer haben seinen Text aus dem amerikanischen Englisch übersetzt.

Vor vierzig Jahren jobbte ich für ein Meinungsforschungsinstitut in Washington, D.C. Mich motivierten damals weder bürgerliches noch politisches Engagement, ich war einfach ein Student, der sich etwas Taschengeld verdienen wollte. Das Skript verlangte, zuerst die Namen des aktuellen Präsidenten und des Vizepräsidenten zu erfragen – damals waren dies Jimmy Carter und Walter Mondale.

Das aber war für eine meiner Gesprächspartnerinnen, die mir bis heute nicht aus dem Kopf geht, schon zu viel. „Meine Güte“, sagte sie mit zitternder Stimme, „das weiß ich nicht. Ich glaube, ich kannte die letzten beiden, aber ich bin mir nicht sicher, wer jetzt am Ruder ist.“

Peinliches Versagen

Sie machte eine Pause, um nachzudenken, aber kam nicht darauf. Bei der grundlegendsten bürgerkundlichen Frage zu versagen, war ihr hörbar peinlich. Aber sie erklärte mir, dass sie wirklich gerne behilflich sein wolle, aber mit all der Arbeit auf ihrer Farm habe sie keine Zeit, Politik so aufmerksam zu verfolgen, wie sie es gerne tun würde. „Könnten wir weitermachen und später noch mal auf diese Frage zurückkommen?“

Aus Sicht meines Arbeitgebers ging ich wahrscheinlich zu weit, als ich ihr sagte, dass ich sie verstehe könne. Und das tat ich wirklich. Denn ich telefonierte mit Bürgern im ländlichen Norden von Michigan, einer Region, die ich von Kindheit an kannte, weil meine Eltern dort eine verlassene Schule gekauft und sie zu einer Sommerhütte umgebaut hatten, ein armseliger Holzbau ohne fließend Wasser, der aus genau einem Zimmer bestand.

Als Kind lernte ich die Routine des Lebens auf den dortigen Farmen kennen: Spielen war erlaubt, aber erst nach getaner Arbeit, und weil die Kühe morgens und abends gemolken werden mussten, hatten wir nie richtige Ferien.

Versteckenspielen auf dem Heuboden

Freiheit bedeutete, zu den benachbarten Farmen zu laufen, auf denen meine fünf Geschwister und ich zahllose glückliche Stunden verbrachten. Wir spielten Verstecken auf dem Heuboden und draußen zwischen den Grabsteinen des örtlichen Friedhofs. Trotz der Schilder, die es uns verbaten, schwammen wir im eiskalten Wasser eines Kiesgrubensees entstanden. Das eiskalte Wasser war nur auszuhalten, weil wir immer so verschwitzt und schmutzig vom Bohnenernten, vom Melken oder der Heupresse kamen.

Während ich also der Frau am anderen Ende der Leitung zuhörte, kam ich nicht umhin, mir Mrs Guza, die Mutter unseres Farmer-Freundes, vorzustellen, die uns, wenn wir dort übernachteten, nach Erledigung aller morgendlichen Pflichten mit Eiern und Stapeln von selbstgebackenem getoasteten Broten versorgte. Sie selbst arbeitete ohne Unterbrechung bis zum Abendessen, das erst dann endete, wenn wir unsere Stühle ordentlich unter den Tisch geschoben und uns hingekniet hatten, um den Rosenkranz zu beten.

Sie und die Mädchen begannen mit einem „Ave Maria“, bis die tieferen Stimmen von Mr. Guza und den Jungs einfielen und die zweite Hälfte übernahmen („Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen“). Danach hatten wir nur noch die Kraft, ins Bett zu fallen.

Erinnerung mit einem Lächeln auf den Lippen

Wann also sollte die Frau in Michigan, an die ich geraten war, ihre politischen Kenntnisse auffrischen? Sie ist mir über all die Jahre im Gedächtnis geblieben, durch ihre Mischung aus Freundlichkeit, Würde, und ja, Unwissenheit. Ihre Ehrlichkeit zaubert mir noch immer ein Lächeln auf die Lippen, ihre Unbildung verschafft mir aber auch immer noch ein mulmiges Gefühl.

Einer meiner Pflichtkurse an der Georgetown University in diesem Jahr war Politische Theorie, und ich fragte mich, ob manche gegenüber der Demokratie notorisch misstrauisch Philosophen, am Ende nicht doch Recht hatten. Sind „die Leute“ dafür bereit? Wer noch im Land war wie diese Frau?

Fragen, die niemand öffentlich zu stellen wagt, der nicht als Unmensch gelten will. Vor allem Liberale halten sie für abscheulich. Für eine erfolgreiche demokratische Teilhabe ein Minimum an politischen Kenntnissen vorauszusetzen, ist tabu, denn es berührt jene Klassenunterschiede, die bei Amerikanern seit der Gründung dieses Landes Unbehagen hervorrufen.

In dieser Nacht sinnierte ich am Schreibtisch im Wohnheim meiner teuren Privatuniversität über all diese Themen, während die Frau aus Michigan, so stellte ich es mir vor, längst ins Bett gekippt war. Die Sorge um politische Unwissenheit wird nur selten untersucht, vielmehr ruft sie lauten Widerspruch hervor. Was, du willst einen Lese- und Schreibtest? Wie kannst du es wagen? (Fürs Protokoll: Nein, das will ich nicht.) Was, du unterstellst, dass Bildung Hand in Hand mit Demokratie geht? (Hier würden mir all die Doktortitel der NSDAP-Größen einfallen.) Oder auch: Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass politische Bildung die aufsässige Parteilichkeit verringern würde? (Wiederum: Nein.)

Unverbesserliches Elitedenken?

Als das Verdammenswerteste jedoch würde wohl die Art betrachtet werden, in der die Frage als Beweis für die Tatsache herangezogen wird, dass der Fragesteller einem unverbesserlichen Elitedenken huldigt, also ein Feind der Demokratie ist und der angeborenen Weisheit der einfachen Leute misstraut. Auch nur von Unwissenheit zu sprechen, die nicht die eigene ist, zeugt von schlechten Manieren, wenn nicht von Schlimmerem.

Im Privaten, bei einem Bier, kann man Leute dazu bekommen, das Problem anzuerkennen, vor allem, wenn man es euphemistisch formuliert. Also sprechen wir versuchsweise von einem „Defizit an politischer Bildung“ statt von Unwissenheit. Meine liberalen Freunde versichern mir, dass es sich dabei um ein bloßes Symptom handelt, das von alleine verschwinden wird, sobald wir die großen Fragen unserer Zeit in Angriff nehmen: den zerstörerischen Einfluss von Geld in der Politik, oder das Ungeheuer des „Aktionärs“-Kapitalismus, diese neoliberale Inkarnation dessen, was uns beispiellosen Wohlstand und ebenso beispiellose Einkommensunterschiede gebracht hat.

Dieser Gruppe würde ich schlicht zurufen: Bravo! Lasst uns tatsächlich den Weg zurück zu einer sozialen Marktwirtschaft gehen und auf diesem Weg den Unterschied zwischen dem Sozialen und dem Sozialistischen kennenlernen. Doch könnten wir in der Zwischenzeit nicht auch versuchen, das Bildungsdefizit zu beseitigen? Hat unsere Sucht, für alles gesellschaftliche Ursachen zu finden, uns davon abgehalten, pragmatisch Abhilfe zu schaffen?

Feindseligkeit der Wähler

Der viel tückischere Versuch, alle Diskussion zu ersticken, kommt von der Rechten, wie sie Trump repräsentiert. Wenn die Klage über das weit verbreitete Defizit an politischer Bildung schon unter Liberalen ein unbestreitbarer Beweis für Klassenüberlegenheit ist, wird es bei ihm zu einem nützlichen Treibmittel, um die Feindseligkeit der Wähler anzustacheln.

Es ist ein vertrauter Trick in der amerikanischen Politik, einerseits Klassengegnerschaft zu befeuern und andererseits Klassenunterschiede zu negieren. Wenn Liberale versuchen, soziale Ungerechtigkeiten anzusprechen, werden sie als Aufwiegler eines „Krieges der Klassen“ gebrandmarkt, wohingegen Steuervorteile, die vor allem die extrem Reichen bevorzugen, als Wohltat für alle Amerikaner verkauft werden.

Demokraten, die sich für Sicherheit im Umgang mit Waffen und reproduktionsmedizinische Rechte einsetzen, werden als „Küstenelite“ abgetan, während wohlhabende Republikaner, die auf jeder Skala „Elite“ sind, darauf bestehen, ganz normale Amerikaner zu sein. So sehr wir also die Frage loswerden wollen, wie Leute mit wenig oder gar keinem Verständnis für unsere Demokratie an ihr teilnehmen können, bleibt sie uns erhalten. Ob wir es wollen oder nicht, verlangen die Kernfragen, mit denen Amerika heute konfrontiert ist, ein Mindestmaß an politischer Bildung.

Die Verfassung steckt den Rahmen ab

Man kann nicht darüber diskutieren, das Wahlleutegremium zu reformieren, das wieder einmal das allgemeine Abstimmungsergebnis auf den Kopf stellen könnte, wenn man keine Idee davon hat, was das ist. Debatten über das Recht auf Waffen müssen von einem grundlegenden Verständnis von der Natur der Verfassungszusätze aus vorankommen.

Das Recht auf Waffenbesitz ist nicht weniger antastbar als die Prohibition, die durch einen Verfassungszusatz sowohl eingeführt als auch wieder abgeschafft wurde. Auch Grundsatzdiskussionen über den Zuschnitt von Wahlbezirken und den Ausschluss von bestimmten Wählern müssen verfassungskonform verankert werden.

Am wichtigsten ist vielleicht, dass jeder ein zumindest rudimentäres Verständnis von Gewaltenteilung braucht. Im Vertrauen darauf, dass es niemand durchschaute, machte Donald Trump in den Präsidentschaftsdebatten von 2016 Hillary Clinton wiederholt für jedes Versagen der Zentralregierung verantwortlich. Schließlich, so Trump, „war sie in der Regierung und hat es nicht hingekriegt“. Zu wissen, was die per Verfassung zugewiesenen Aufgaben des Außenministeriums sind, das Clinton damals innehatte, hätte wahrscheinlich keinen Sinneswandel bei den Wählern hervorgerufen, aber wenigstens eine ehrlichere Debatte bewirkt. Seit er ins Amt gekommen ist, hat Trump unsere Demokratie untergraben, indem er unsere Unwissenheit darüber ausgebeutet hat.

1938 bereiste Thomas Mann die Vereinigten Staaten und versicherte seinen Zuhörern, dass „Amerika in Dingen, die die Demokratie betreffen, keine Belehrung braucht“. Selbst als Schmeichelei könnte diese Zeile heute unmöglich ausgesprochen werden. Zu offensichtlich steht sie im Widerspruch zu einer weit verbreiteten Ignoranz, die sich selbst als wertvolles Instrument zur politischen Spaltung erwiesen hat und daher nicht etwas ist, das Trump tatsächlich abschaffen wollte.

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Die Frau, mit der ich vor vierzig Jahren sprach, war ihr Land wichtig. Durch den Anruf eines Teenagers, der aus „der Hauptstadt unserer Nation“ anrief, dachte sie vielleicht, sie müsse nun ihre Pflicht tun. Sie war nicht stolz auf ihr Unwissen. Wir sollten ihr eine Chance geben, sich besser zu schlagen. Die Vorstellung, dass Demokratie etwas ist, das den Amerikanern im Blut liegt, ist eine einfältige Annahme. Zu lange haben wir geglaubt, dass geteilte Mythen – etwa ein Land von Migranten zu sein – einen mangelnden Begriff von verfassungsgemäßer Ordnung kompensieren könnte.

Wir sehen jetzt, dass das nicht länger stimmt, wenn es das denn jemals tat. „Verfassungspatriotismus“, dieser Begriffskoloss, den Jürgen Habermas prägte, um den Nachkriegsdeutschen zu helfen, die Vorstellungen einer ethnischen Zugehörigkeit zur Nation abzulegen, ist etwas, das Amerikaner dringend brauchen. Denn egal, wie viele Fahnen man schwenkt, man kann, ohne grundlegende politische Kenntnisse nicht wirklich patriotisch sein.

William Collins Donahue

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