Politik: Schilys Stunde Null
Von Gerd Appenzeller
In einem früheren Leben war Otto Schily ein glänzender Strafverteidiger. In einem etwas späteren Leben, als Bundestagsabgeordneter, war er ein wortgewaltiger Ankläger. Ein brillanter Jurist ist er, als Bundesinnenminister, immer noch. Deshalb weiß er, dass man mit Empörung nicht nur Vorwürfe zurückweisen kann, die nicht zutreffen, sondern auch jene, die so gar nicht erhoben wurden. Die Bundesministerien haben keine nationalsozialistische Vergangenheit, heißt es in einer Erklärung seines Ministeriums – eine Reaktion auf die Forderung der grünen Minister Renate Künast und Joschka Fischer, für ihre Häuser Historikerkommissionen einzusetzen, die die Verstrickungen einzelner Ministerialbeamter in der NSZeit untersuchen sollten.
Natürlich hat kein Ministerium der Bundesrepublik Deutschland, eines rechtsstaatlich verfassten und demokratisch regierten Staates, als Ganzes eine nationalsozialistische Vergangenheit. Auch Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach, der Otto Schily beisprang, hat Recht: Bundesdeutsche Ministerien müssen sich nicht in einer Tradition zu denen des Nazi-Regimes sehen. Nein, die Ministerien haben sich, wie der Staat selbst, demokratisch bewährt. Aber ein bisschen klingt das, was Otto Schily der Öffentlichkeit nun weismachen will, doch wie jene Stunde Null, die nach einer längst als falsch erkannten Geschichtsdeutung mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 angeblich gekommen war. Schon vor Jahrzehnten hat sich die Bundesrepublik zur Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs bekannt. Nur deshalb konnte sie sich für die Wiedervereinigung einsetzen. Heute wissen wir, dass man in der Historie eines Volkes nicht einfach alles auf Anfang stellen kann.
Die DDR und ihre unter russischer Besatzung amtierenden Vorläufer staatlicher Gewalt haben das nach 1945 im anderen Teil Deutschlands ganz entschlossen, ja brutal versucht – mit dem bekannten Ergebnis. Was nützt die perfekteste Entnazifizierung, wenn sie von einem diktatorischen Geist mit undemokratischem Ziel angetrieben wird? In Westdeutschland war man da großzügiger. Der Kalte Krieg und die Teilung der Welt in zwei feindliche Blöcke trieben den einstigen Gegner Westdeutschland mit einer milden Strömung an die Seite der westlichen Alliierten. Und auch Konrad Adenauer, der aus dem Widerstand gekommene erste Kanzler, hatte keine Probleme damit, die kleinen und großen Mitläufer, aber eben auch viele Voranläufer, zum Wohle des Ganzen zu integrieren. Sein Staatssekretär Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, ist das wohl schmerzendste Beispiel der skrupellosen Re-Integration der Täter von einst.
Auch wenn die bundesdeutschen Ministerien als Ganzes keine NS-Vergangenheit haben mögen – ein Drittel der Nachkriegsbeamten in ihnen war zuvor in der NSDAP gewesen. Im Bundesinnenministerium, Otto Schilys Haus, waren es über 40 Prozent. Unter organisiertem Widerstand muss man sich wohl etwas anderes vorstellen. Darum geht es heute. Sage niemand, in der alten Bundesrepublik habe das nicht jeder gewusst. Aber es gab eben auch eine Zeit, in der jeder, der diese Verstrickung erwähnte, als Nestbeschmutzer, als Kommunist abgestempelt wurde.
Otto Schily selbst hat seine Persönlichkeitsprägung im Kampf gegen die Generation der Geschichtsverdränger erfahren. Warum ist er heute so anders? Weil ein Staat, den er repräsentiert, eben nur ein Staat ohne Makel sein kann? Weil er, etwas zynisch, am Ende eines langen, kämpferischen Weges zu jener Erkenntnis gelangte, die den Künasts und Fischers noch abgeht – dass der Staat sich um seiner selbst willen seiner Feinde erwehren muss und dabei in aller Härte auch nachsichtig gegenüber jenen sein darf, die ihm in diesem Kampf zur Seite stehen?
Hinter dieser vermeintlichen Großherzigkeit versteckte sich, von Nahem betrachtet, der schiere Machiavellismus. So sehr möchten wir nun doch nicht das Fressen über die Moral stellen. Es geht nicht darum, eine lächerliche Hexenjagd über Beamtenfriedhöfe hinweg zu veranstalten. Aber sich, 60 Jahre nach der Kapitulation, auch im Blick auf die ersten Jahre nach dem Krieg etwas ehrlicher zu machen, das wäre schon eine gute Sache.
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