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Schule macht jedes Bundesland nach eigenen Vorstellungen, was für die Schülerschaft handfeste Probleme schafft.

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Schule leidet an der Ignoranz der Länder: Warum der Nationale Bildungsrat nötig ist

Bundesweite Bildungsplanung ist keine Attacke auf die Länder, sondern dient den Schülern. Vor allem sie leiden unter regionalem Reformeifer. Ein Gastbeitrag.

- Robert Rauh ist Lehrer und Seminarleiter in Berlin und wurde 2013 „Lehrer des Jahres“

Die schlechtesten Abiturienten kommen aus dem Norden. In Schleswig-Holstein schafften 2018 nur 17,3 Prozent der Schulabgänger ihr Abitur mit einer Eins vor dem Komma. Im Platz-1-Land Thüringen gelang das 37,9 Prozent.

Sind Schüler in Erfurt schlauer als in Kiel? Nur statistisch gesehen. Denn die Abiturleistungen werden in den Bundesländern unterschiedlich gewichtet. Außerdem haben vier Länder vier Prüfungsfächer, elf dagegen fünf. Diese Ungerechtigkeiten bekommen die Abiturienten spätestens zu spüren, wenn sie sich an der Universität für Numerus-clausus-Fächer bewerben.

Den Kultusministerien ist das bewusst. 2017 haben sie einen zentralen Aufgabenpool für die Hauptfächer eingerichtet. Allerdings ist das Angebot freiwillig. Einige Bundesländer ignorieren es, andere modifizieren die Aufgaben. Wer diesen Pool als ersten Schritt für ein vergleichbares Abitur preist, verkauft eine Mogelpackung. Die unterschiedlichen Abschlusszeugnisse sind nur ein Beispiel für den deutschen Föderalismusdschungel, der viele bunte Blüten treibt. Stichworte: die G-8-Reform zur Verkürzung der Gymnasialschulzeit. Die zumindest in Berlin übereilte Einführung des jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL) oder die Früheinschulung, was beides nach Protesten verändert oder zurückgenommen wurde. Die meisten dieser Maßnahmen verbindet, dass sie auf den Reformeifer von Landesregierungen zurückzuführen sind, die sich profilieren möchten – und dass sie häufig ohne Beteiligung der Betroffenen auf den Gesetzesweg gebracht wurden.

Erst wird gestritten, dann zerredet

Nun scheint es einen Ausweg zu geben: in Gestalt des Nationalen Bildungsrates. Der wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom Frühjahr 2018 vereinbart. Darin erhebt die Groko den Anspruch, „die Bildungschancen in Deutschland im gemeinsamen Schulterschluss von Bund und Ländern“ zu verbessern. Dafür soll ein Bildungsrat „Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen vorlegen“.

Doch erst drohte der gemeinsame Schulterschluss an der Einigung über die Stimmenverteilung zu scheitern. Und nun stellen die unionsgeführten Länder den Rat an sich infrage. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder warnte, er werde „ein bürokratisches Monstrum, das am Ende aus Berlin in die kleinen Schulstuben hineinregiert“. Susanne Eisenmann, Kultusministerin in Baden-Württemberg, hält den Bildungsrat für überflüssig. Man brauche „kein Gremium, das auf Bundesebene Vorgaben für landeshoheitliche Aufgaben entwickelt“. Es ist der immer gleiche Reflex: Die Länder befürchten, der Bund könnte ihnen am Ende die Bildungshoheit streitig machen. Aber das ist nicht überzeugend.

Deutschland kann auf gute Erfahrungen mit einer bundesweiten Bildungsplanung zurückgreifen. Von 1965 bis 1975 existierte bereits ein „Deutscher Bildungsrat“, der nicht nur Empfehlungen für langfristige Entwicklungen aussprechen, sondern auch Bedarfspläne für das deutsche Bildungswesen entwerfen sollte. Einige der damaligen Ratspublikationen erzeugen ein Déjà-vu: „Lehrermangel“ (1967), „Ganztagsschulen“ (1968), „Abschlüsse im Sekundarschulwesen“ (1969). Aus dieser Geschichte könnten auch Lehrplanmacher lernen, die bei jedem neuen Entwurf versprechen, die Curricula zu entschlacken: Der Deutsche Bildungsrat empfahl das „Exemplarische Lehren und Lernen“.

Die Lehrpläne müssen einheitlicher werden

Auch wenn nicht alles umgesetzt wurde, muss der wiederbelebte Rat das Rad nicht neu erfinden, sondern könnte sich am historischen Vorbild ein Beispiel nehmen: Empfehlungen aussprechen, die nicht der Ignoranz von Landespolitikern zum Opfer fallen (dürfen). Dazu wäre es notwendig, einen Rat zu gründen, der den Namen verdient. In ihm sollten nicht nur Bildungspolitiker und -forscher sitzen, sondern auch Lehrer und Schüler. Institutionen wie Deutscher Lehrerverband und Bundesschülerkonferenz existieren bereits. Ihre Perspektive ist unverzichtbar. Es ist die Perspektive der Lehrenden und Lernenden, die aus eigener Erfahrung wissen, was sich ändern muss. Alle Vertreter sollten gemeinsam beraten – und nicht, wie es geplant ist, in einem Zwei-Kammer-System.

Die Liste notwendiger Reformen ist lang. Am dringlichsten ist die länderübergreifende Vereinheitlichung des Schulsystems. Dazu gehören nicht nur die Prüfungsstandards und Versetzungsordnungen, sondern vor allem die Lehrpläne. Als Erstes ein Zentralabitur einzuführen, wäre eine falsche Reihenfolge. Festgelegt werden müssten zunächst Kerninhalte, die für alle verbindlich sind. Dabei könnte die in einigen Bundesländern gebräuchliche Bezeichnung „Rahmenlehrplan“ einen erweiterten Sinn bekommen. Der zentral vorgegebene Rahmen ließe sich mit regionalen Spezifika anreichern.

Im Fach Geschichte würden sich beispielsweise alle Schülerinnen und Schüler in Klasse 8 beim Thema „Absolutismus“ mit den Merkmalen dieser Regierungsform beschäftigen – und vertiefend würden dann bayerische Schüler die Machtentfaltung des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel behandeln und in Berlin und Brandenburg würde der aufgeklärte Absolutismus des preußischen Königs Friedrich des Großen thematisiert.

Es geht auch um Ideologiefreiheit

Reformiert werden muss auch die Lehrerausbildung. Warum nicht darüber nachdenken, die Ausbildung an Landesinstitute für Schulbildung mit einem hohem Praxisanteil zu verlagern, damit sie an den Universitäten nicht länger das fünfte Rad am Wagen bildet. Ansiedeln ließe sich hier auch die Lehrerweiterbildung. Somit wären die Institute der inhaltliche und organisatorische Kopf für die gesamte Lehrerausbildung. Und sie könnten sich zu pädagogischen Kompetenzzentren entwickeln, die sich an der Entwicklung neuer Konzepte und an Forschungsprojekten der Universitäten und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen beteiligen.

Denn auf keinen Fall darf die Vereinheitlichung auf Kosten der vielfältigen pädagogischen Konzepte und regionalen Besonderheiten in der deutschen Schullandschaft gehen. Und keinesfalls darf der neue Bildungsrat thematisch – etwa mit Schülerverteilungsfragen – überfrachtet werden. Er sollte jenseits der schulpolitischen Kleinstaaterei lange Linien entwerfen, die den föderativen Kurzstreckenlauf ersetzen. Und so am Ende ideologiefrei mehr Bildungsgerechtigkeit ermöglichen.

Robert Rauh

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