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Politik: Schulpflicht verpflichtet

Von Susanne Vieth-Entus

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Als sich unsere Urgroßväter 1919 auf die allgemeine Schulpflicht einigten, war dies ohne Frage eine große Tat. Auch als diese Pflicht von zunächst acht auf inzwischen zehn Jahre verlängert wurde, war die Politik auf dem richtigen Weg. Längst aber zeigt sich, dass die Masse (an Jahren) noch lange keine Klasse (an Bildung) bedeutet. Zwei Synonyme dieser Ungleichung sind Pisa und Rütli.

Wenn sich morgen das Bekanntwerden des berühmt-berüchtigten Brandbriefes aus Berlin-Neukölln zum ersten Mal jährt, kann man schon mal fragen, inwieweit eine Schulpflicht nutzt, wenn der Staat nicht für gute Schulen sorgt. Ja, ob eine Schulpflicht überhaupt verantwortbar ist, wenn sich in etlichen Schulen so viele Probleme ballen, dass diese Ballung eine „außerordentlich schädliche Wirkung auf die Leistungsentwicklung“ hat, wie die Pisa-Forscher einem Großteil der deutschen und der Mehrzahl der Berliner Hauptschulen attestierten.

Der Staat will jetzt – endlich – seine Zähne zeigen, wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen. Aber wie, bitte schön, können sich Eltern gegen einen Staat wehren, der ihre Kinder vernachlässigt, indem er sie in schlechte Schulen zwingt?

Wenn die Welt einfach wäre, könnte die Schließung aller Hauptschulen eine gute Antwort auf die Problemlage bei Rütli und Co. sein. Aber so einfach ist es nicht. Denn es gibt – gerade auch in Berlin – wunderbare Hauptschulen, deren Schwung manches Gymnasium, deren Gemeinschaftsgeist manche Realschule und deren Gewaltlosigkeit manche Gesamtschule neidisch werden lässt. Wenn „Zumachen“ die richtige Antwort auf Drittklassigkeit von Bildungsanstalten wäre, müssten sehr viele Einrichtungen geschlossen werden – auch manche Kita und manches Gymnasium.

Unbestritten erschwert die Negativauslese der Jugendlichen in Hauptschulen eine erfolgreiche Arbeit ganz besonders. Und deshalb sollte man eine Schulstruktur anstreben, die diese Negativauslese verhindert. Mit Sicherheit steuert auch Berlin mittelfristig auf ein System zu, dass nur noch zwei Schultypen – das Gymnasium und eine weitere Schulform – kennt. Aber bis es so weit ist, und auch wenn es so weit ist, muss es parallel immer auch darum gehen, die einzelne Schule unabhängig von ihrem Etikett so gut wie möglich zu machen.

Auf diesem Wege hat der Staat viele Optionen. Eine von ihnen besteht darin, gezielt den schlechten Schulen auf den Leib zu rücken. Es kann nicht sein, dass die Schulinspekteure ihre und unsere kostbare Zeit damit vergeuden, tagelang in Vorzeigeschulen herumzulaufen, während nebenan die Luft brennt: Oberste Priorität müssen die Schulen haben, die ein Risiko für die Zukunftschancen der Kinder darstellen. Sie müssen erkannt, inspiziert und gecoacht werden.

Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner, der auch gerade Präsident der Kultusministerkonferenz ist, will der Schulaufsicht jetzt mehr auf die Finger sehen. Das kann er gern tun. Aber er sollte ihr auch die für ihre Aufgaben notwendigen Instrumente in die Hand geben. Die Schulaufsicht muss zum Beispiel die Möglichkeit haben, junge, reformfreudige Lehrer gezielt an schwache Schulen zu holen; viel zu lange hat der Senat sie mangels Stellenangeboten nach Hamburg oder Niedersachsen abwandern lassen. Die Schulaufsicht muss auch die Möglichkeit bekommen, unfähige Schulleiter anderen Aufgaben zuzuführen. Es kann nicht sein, dass ein Rektor zwanzig Jahre lang eine Schule ruiniert, die zu besuchen die Schulpflicht verlangt. Es kann nicht sein, dass der Staat dabei zusieht, nur weil sich keiner wehrt. Wie kann er so fahrlässig sein, schlechte Schulen einfach hinzunehmen, nur weil dort Schüler konzentriert sind, deren Eltern nicht begreifen, was mit ihren Kindern passiert?

Dieses Zusehen über Jahre hinweg ist der eigentliche Skandal. Wenn der Gesetzgeber mitsamt seiner Schulpflicht ernst genommen werden will, muss er für Qualität sorgen. Ob er dies tut, indem er unfähige Rektoren austauscht, Ganztagsbetreuung schafft, mehr Sozialarbeiter einstellt oder Prämien zahlt für erfolgreiche Arbeit in sozialen Brennpunkten: Das kann und muss er selbst entscheiden.

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