Politik: Vorwärts und nichts vergessen (Kommentar)
Zuerst die guten Nachrichten. Johannes Rau, der Herr der Allgemeinplätze, hat keine Rede zum 8.
Zuerst die guten Nachrichten. Johannes Rau, der Herr der Allgemeinplätze, hat keine Rede zum 8. Mai gehalten. Zweitens: Gerhard Schröder hat eine Rede zum 8. Mai gehalten - und zwar ohne größere Peinlichkeit. Und das ist, angesichts des nassforschen Desinteresses, mit dem der Bundeskanzler Fragen der Vergangenheit normalerweise behandelt, auch schon was. Schröders Botschaft lautet: Es gab keine Kollektivschuld, der 8. Mai war ein Tag der Befreiung, die EU-Osterweiterung soll es auch wegen der vergangenen Schrecken geben. Eine solide Rede, immer nah am common sense und an dem beliebten Dreischritt - erinnern, bewältigen, in die Zukunft blicken. Seine hartnäckige Ignoranz in historischen Fragen dürfte Schröder nicht von einem Tag auf den anderen überwunden haben - wohl aber seine bekannte Beratungsresistenz.
Der Auftritt des Kanzlers zeigt gleichzeitig, dass die Historisierung der NS-Vergangenheit unaufhaltsam voranschreitet. Sogar Schröder kann gedenken, ohne Anstoß zu erregen. Die Kritik an dieser Routine ist freilich selbst so alt wie die bundesdeutsche Bewältigungskultur. Und sie hatte stets einen alarmistischen Grundton. Als vor fünf Jahren mit gehöriger medialer Aufmerksamkeit der 50. Jahrestag des Kriegsendes begangen wurde, warnten viele, dass das Thema nun endgültig entsorgt werde. Doch danach folgten die Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung, die Goldhagen- und die Mahnmal-Debatte und der Zwist zwischen Walser und Bubis: Diskussionen, die nichts mit Gedenkroutine zu tun hatten, sondern die aus der deutschen Gesellschaft selbst kamen. Und kaum ein Thema - weder Rente noch eine rot-grüne Regierung - vermochte die Öffentlichkeit in solchen Aufruhr zu versetzen, wie der Umgang mit der NS-Geschichte.
Doch es hat sich etwas verändert. Mit Rot-Grün ist eine Generation an der Macht, die als unverdächtig gilt, das Thema verdrängen zu wollen. Im Gegenteil: Joschka Fischer ist als politische Figur ohne den 68er-Antifaschismus nicht vorstellbar. Gleichzeitig hat Rot-Grün im Kosovo de facto die außenpolitische Normalisierung Deutschlands durchgesetzt. Mit der Entschädigung der Zwangsarbeiter wird wohl die letzte offene Rechnung symbolisch beglichen.
Und vor allem: Niemand warnt mehr vor der Verdrängung, die Kritiker sind müde geworden. Zu oft waren ihre bösen Prophezeihungen falsch. Das ist die paradoxe Voraussetzung für die Historisierung. So lange es die überzogenen Warnrufe noch gab, war der Schlussstrich unmöglich. Nun geschieht die Historisierung - nicht mit einem Paukenschlag, sondern leise und undramatisch.
Stefan Reinecke