Politik: Wie sittenwidrig sind 511 Euro?
Die Koalitionspartner geben sich bei Mindestlöhnen kompromissbereit – eine Lösung ist aber nicht in Sicht
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Berlin - Ist es sittenwidrig, wenn jemand 40 Stunden in der Woche arbeitet und am Ende 511 Euro brutto nach Hause trägt? Für Thüringens Friseurinnen lautet die Antwort schlicht: Nein. Denn 511 Euro, oder anders gesagt 3,18 Euro in der Stunde, das ist der unterste Tariflohn für die gesamte Branche in dem Bundesland. Auch, wenn jede alleinerziehende Mutter mit Kind vom Arbeitsamt fürs Nichtstun mehr Hartz-IV-Unterstützung bekommt, sind 511 Euro dennoch in Thüringen der orts- und branchenübliche Mindestlohn, vereinbart von den Tarifpartnern im Jahre 1995 und bis heute vom Sozialministerium des Landes für allgemeinverbindlich erklärt.
Glücklich sind die Thüringer mit ihrem Mindestlohn allerdings nicht. „Peinlich“ sei es, sagt man bei der Gewerkschaft Verdi, dass die Vorgänger-Gewerkschaft ÖTV seinerzeit überhaupt so einen Tarifvertrag unterschrieben hat. Und auch die Arbeitgeberseite, die Friseurinnung, schämt sich heute ein ganz kleines bisschen dafür, ihren Mitarbeitern eigentlich den guten Rat geben zu müssen, lieber zum Arbeitsamt zu gehen als jeden Tag im Salon zu schuften.
Wie man erkennen kann, haben sich SPD und Union kein leichtes Ziel gesteckt, wenn sie noch in diesem Frühjahr miteinander vereinbaren wollen, wie in Zukunft erreicht werden soll, dass in ganz Deutschland „guter Lohn für gute Arbeit“ gezahlt wird. Schon vor den Verhandlungen der Koalitionsspitzen an diesem Mittwochabend im Kanzleramt hieß es auf beiden Seiten unisono: kein Kompromiss in Sicht. Und schon gar nicht bis Ende April, wie es Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) in den Raum gestellt hat. Wär ja auch noch schöner, wenn der Genosse Franz am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiter, vor den Mikrofonen verkünden könnte, der Union einen Mindestlohn abgepresst zu haben. So weit geht die Koalitionstreue nicht, aus Sicht der Union.
Dass sich beide Seiten bewegen, wird dennoch immer deutlicher. Was nicht bedeutet, dass praktikable Lösungen, die man überdies politisch der eigenen Anhängerschar erklären kann, bereits in Sicht sind. Denn schon beim gesetzlichen Verbot sittenwidriger Löhne geht das Koalitionsdilemma los. Woran soll man sie bemessen? Schon 511 Euro Monatsbruttoverdienst klingen sittenwidrig, dass dieses Attribut erst bei weniger als 409 Euro (20 Prozent unter 511 Euro) gelten soll, wird man weder Sozialdemokraten noch sozial denkenden Christdemokraten in Wahlkämpfen als arbeitsmarktpolitische Errungenschaft präsentieren können. Gleiches gilt auch für die Einführung von branchenspezifischen Mindestlöhnen. Auch hier sind die Details vollkommen offen. Dennoch sagt der CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer, er glaube, „da bewegt man sich aufeinander zu“, sei „guten Willens“. Schließlich wolle auch die Union Lohn-Ausreißer nach unten einfangen und „Gefahren im Bereich Dienstleistungsfreiheit“ abwenden. Schließlich muss Deutschland am 1. Januar 2009 seinen Arbeitsmarkt für ganz Europa öffnen, weshalb sich spätestens dann auch Arbeitgeber mit Branchenmindestlöhnen gegen unliebsame Konkurrenz etwa aus Osteuropa werden schützen wollen.
Genauso undurchsichtig übrigens wie die Verhandlungen in der Sache ist im Moment auch die politische Begleitwerbung über die Unterschriftenaktion von SPD und dem Unions-Arbeitnehmerflügel CDA. Denn am Mittwochmorgen erhielt die SPD-Führung zur Unterstützung ihrer Mindestlohnkampagne eine Unterschriftenliste aus dem Bundestag, die mancher Sozialdemokrat schon als sittenwidrig betrachten dürfte. Oben steht das das Kürzel von Oskar Lafontaine, darunter die der vollständigen Linksfraktion.
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