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Wie die Individualisierung über uns kam: Wimmelbild und Welterklärung
Die Brüche der westlichen Welt laufen im Jahr 1977 zusammen. Das beschreibt der Historiker Philipp Sarasin ausufernd in seinem neuen Buch. Eine Rezension.
Stand:
Wenn man die Geschichte der Gegenwart verstehen will, muss man dann wirklich wissen, welche US-amerikanische Illustrierte im April 1977 zuerst das Model Farrah Fawcett-Majors auf ihrem Titel zeigte und wann die Konkurrenz der sportlichen Schönheit dann ebenfalls huldigte? Muss es einen dann interessieren, warum ein Poster der jungen Frau, die jeden Morgen joggte, im Film „Saturday Night Fever“ zu sehen ist, wenn dessen Hauptdarsteller Tony Manero (John Travolta) sich vor dem Spiegel auf seinen Disco-Abend vorbereitet?
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin erzählt uns diese Fakten jedenfalls mit einer gewissen Detailbesessenheit in seinem Buch „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Notwendig scheinen diese Abschweifungen in die Populärkultur für seine Argumentation nicht, aber trotzdem folgt man seiner Darstellung staunend. Denn Sarasin hat eines der außergewöhnlichsten historischen Bücher der jüngsten Zeit vorgelegt. Es ist zugleich banal und intellektuell, verliert sich in aberwitzigen Nebensächlichkeiten und entfaltet große Thesen.
Es geht um den Strukturbruch von der Moderne zur Postmoderne, um das Verblassen universeller und den Aufstieg individueller Ansprüche. Deshalb legt Sarasin keine Haupt- und Staatsgeschichte vor, sondern schaut neugierig auf fast jeden Bereich von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, vor allem interessieren ihn „die Revolution, das Recht, der Sex, die Medien und der Markt“. Und wo er hinschaut, da will er es ganz genau wissen.

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Die Theorie des Neoliberalismus seziert er mit dem gleichen Interesse wie das ausschweifende Sexualleben der Schriftstellerin Anaïs Nin, die Botschaft von Texten von Punkbands genauso wie auf den Aufstieg von Margaret Thatchers oder die Anziehungskraft des indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh auf die Kinder westlichen Wohlstands. Womöglich ist es folgerichtig, dass bei einem Autor, der von den Meisterdenkern der Postmoderne geprägt ist, die Struktur seines Buches nach dem „Ende der großen Erzählungen“ (Jean-Francois Lyotard) nicht mehr linear ist, sondern auseinanderfällt.
Die Fitnesswelle, die er am Beispiel des anfangs erwähnten Models Farrah Fawcett-Majors schildert, ist bei Sarasin ein Beispiel für die individuelle Sinnsuche, für die er auch in der „Neuen Subjektivität“ der Literatur, im Kampf für die Anerkennung von Minderheiten und in der Absage der „New Age“-Propheten an den Rationalismus Belege findet.
Doch warum wählt der Autor als Ausgangspunkt einer Transformation, die fast alle Lebensbereiche umfasst, ausgerechnet das Jahr 1977? Sarasin, ein Kenner des Werks von Michel Foucault, stellt die These auf, dass sich in diesem Jahr das Denken des französischen Ideenhistorikers verschob. Der Basler Historiker sieht in ihm zugleich den „Seismografen“ und „Stichwortgeber“ einer Wende zum „Ich“, zur „Spiritualität“ und zur „Sorge um sich“ (selbst), die auf den Verlust des Vertrauens in die Deutungs- und Ordnungsmacht der Rationalität folgte und die Moderne ablöste.
Zudem versucht Sarasin nachzuweisen, dass sich in diesem Jahr die „tiefen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Verschiebungen und Brüche in Westeuropa und den USA (…) auf eine erstaunliche Weise bündeln lassen“. Dabei stellt er sich dem Gedanken durchaus, dass sich mit Gründen auch andere Jahre als Ausgangspunkt von Verschiebungen identifizieren lassen, die uns noch immer prägen und beschäftigen (der Potsdamer Historiker Frank Bösch etwa stieg mit seinem Buch „Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann“ zwei Jahre später ein).

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Gott ist schon länger tot, dann ist in der Folge von 1977 laut Sarasin auch noch die Moderne gestorben. Jedenfalls verabschiedet er sie als „normative Orientierungsmarke“. Das Ende der klassischen Moderne oder Hochmoderne beschreibt er mit fünf Biografien von Menschen: Dabei geht es um den marxistischen Philosophen Ernst Bloch, die schwarze Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer, die US-amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin, den französischen Autor Jacques Prévert und den deutschen Ökonomen und Politiker Ludwig Erhard. Margaret Thatcher ist zwar kein eigenes Kapitel gewidmet, aber der Aufstieg der britischen Politikerin zur Premierministerin und ihr Modell des freien Marktes scheinen den Autor zu faszinieren.
Mit leidenschaftlicher Neugierde, aber einem eher neutralen Blick beschreibt Sarasin auf mehr als 400 Seiten die Entwicklungen in allen Verästelungen. Am Ende aber entbirgt sich der Autor plötzlich und bekennt sich als Bürger zu seiner Sorge – er verweist auf die Kosten einer Individualisierung, die durch die heute fast unentkommbaren Angebote digitaler Weltfirmen noch gesteigert wird.
Die Kombination von „Identität“, „freier Konsumwahl“ und Internettechnologie wirke „korrosiv“, schreibt er – und das ist ein durchaus plausibles und beunruhigendes Urteil. Es drohten „der politische Basiskonsens und mit ihm die Mitte zu zerfallen“. Der „Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion“ könne „gar nicht hoch genug eingeschätzt werden“, heißt es in den letzten beiden Sätzen des Buches: „Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch.“
Wer ist dieses „Wir“? Meint der Basler Historiker die Bewohner Westeuropas und der USA oder die Menschheit schlechthin? Womöglich hätten sowohl Michel Foucault als auch Margaret Thatcher („There is no such thing as society“) die Konstruktion eines solchen „Wir“ sehr skeptisch gesehen.
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Aber nach der Lektüre dieses gelehrten, manchmal auch tastend voranschreitenden Buches wird ohnehin klar: Hier hält niemand tröstliche Botschaften zum Nachhausetragen bereit. Diese Synthese aus historischen Wimmelbildern und anspruchsvoller Welterklärung muss im Zeitalter der Individualisierung jede und jeder alleine weiterdenken.
Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Suhrkamp, Berlin, 508 Seiten, 32 Euro.
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