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Verzweifelt. Die Eltern der entführten Kinder warten vor der Schule in Kankara.

© REUTERS

Massenentführung von Schülern in Nigeria: „Wir dachten, unser Ende sei gekommen“

Im Norden Nigerias sind mehr als 300 Schüler entführt worden – offenbar weitet die Islamisten-Sekte „Boko Haram“ ihren Aktionsradius aus.

Stundenlang rannten die Schüler nachts durch das Buschland. So lange, bis sie vor Erschöpfung fast umgefallen seien. „Wir dachten, unser Ende sei gekommen“, berichtet ein nicht namentlich genannter Schüler des Gymnasiums von Kankara der nigerianischen Tageszeitung Daily Trust. 

„Die Schüsse klangen wie Donner, ich fragte mich, ob sie uns alle töten wollten – von armen Schülern kann man doch kein Geld erwarten.“ Der Junge konnte noch rechtzeitig fliehen. „Wir hatten nichts zu trinken, blieben aber trotzdem die ganze Nacht im Busch.“

Im Norden Nigerias ist es erneut zu einer Massenentführung von Schülern gekommen: Nach dem Überfall auf ein naturwissenschaftliches Internat im Bundesstaat Katsina am Freitagabend ist das Schicksal von mehr als 300 Gymnasiasten noch immer ungewiss. 

Mehrere Dutzend mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Männer hatten um 22 Uhr das Schulgebäude in dem Städtchen Kankara angegriffen und sich ein einstündiges Feuergefecht mit Polizisten und dem Sicherheitspersonal der Schule geliefert. 

Ein Wachmann soll ums Leben gekommen sein. Mindestens 200 der insgesamt fast 900 Schülern gelang im Getümmel die Flucht. Die meisten von ihnen sind inzwischen zurückgekehrt. Die genaue Zahl der entführten Jungen steht noch immer nicht fest.

Für den Überfall gibt es noch keine Bekenner

Auch dem 18-jährigen Osama Aminu Maale gelang die Flucht, nachdem er bereits mit seinen Schulkameraden von den Entführern in ein nahegelegenes Waldstück verschleppt worden war. Dort seien sie aufgefordert worden, die Entführten zu zählen, berichtete Osama gegenüber AFP: „Wir sind auf 520 gekommen.“ Die Schüler wurden daraufhin in kleinere Gruppen aufgeteilt. Der kränkliche Osama sei beim Marsch durch den Wald immer wieder zurückgefallen und von einem der Männer wiederholt geschlagen worden. Schließlich hätte der Entführer jedoch aufgegeben, was dem Abiturienten die Flucht ermöglichte.

Angaben der nigerianischen Armee zufolge wurden die Entführer in dem Waldstück bereits von Soldaten aufgespürt, dabei soll es zu einem weiteren Feuergefecht gekommen sein. Das Militär habe die Gegend inzwischen weiträumig abgesperrt, teilte ein Regierungssprecher. Bei der Suche nach den Entführten würden auch Flugzeuge eingesetzt.

Bislang gibt es für den Überfall noch keine Bekenner. In der lokalen Presse werden die Angreifer als „Banditen“ bezeichnet: Bandenmitglieder ohne politische oder religiöse Motive, denen es nur aufs Geld ankomme. Nigeria-Kenner bringen den Vorfall mit der extremistischen Islamisten-Sekte „Boko Haram“ in Verbindung, die in der Vergangenheit wiederholt große Gruppen von Schulkindern entführte. Allerdings war die militante Sekte bisher fast ausschließlich im Nordosten des Landes aktiv, über 500 Kilometer von Kankara entfernt. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich die in zwei Teile gespaltene Sekte derzeit weiter auszubreiten sucht: Der Vorfall trage die Handschrift des mit dem „Islamischen Staat“ verbündeten „Boko-Haram“-Führers Abubakar Shekau, der den gewalttätigeren Flügel der Sekte kommandiert, heißt es.

„Wir leben unter entsetzlichen Bedingungen“

Im Bundesstaat Katsina kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu gewalttätigen Zwischenfällen. „Wir leben unter entsetzlichen Bedingungen“, sagte Bint’a Ismail, die Mutter eines entführten Jungen: „Wir fragen uns, welchen Wert unsere Regierung für uns überhaupt hat.“

Katsinas Gouverneur Aminu Masari ordnete die Schließung sämtlicher Schulen in dem Bundesstaat an. „Wir werden alles dafür tun, Eure Kinder zu befreien“, sagte er bei einem Besuch am Tatort und fügte unter Tränen hinzu: „Wir wissen sehr wohl, dass wir für die Sicherheit eurer Kinder verantwortlich waren.“

Die bislang erschütterndste Massenentführung von Schulkindern fand vor sechs Jahren im nordostnigerianischen Städtchen Chibok statt. Damals entführten „Boko-Haram“-Kämpfer 276 Mädchen, von rund 100 fehlt noch immer jede Spur. Ende November richteten Mitglieder des von Shekau geführten Flügels der Sekte ein Blutbad in einem Reisfeld im Bundesstaat Borno an. Sie schnitten 76 Landarbeitern die Kehle durch.

Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Fatou Bensouda, kündigte vor wenigen Tagen Ermittlungen ihrer Behörde wegen den in Nigeria begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Dabei sollten sowohl die Gewalttaten der Extremisten wie auch die Übergriffe der nigerianischen Streitkräfte untersucht werden, sagte die Chefanklägerin.

Johannes Dieterich

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