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Von Bernd Kluge: Flucht aus dem Kaukasus

Frankfurter evangelische Gemeinde gewährt tschetschenischer Familie Kirchenasyl

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Frankfurt (Oder) - Der schmächtige Mann mit dem dunklen Vollbart wirkt müde und erschöpft. „Wir versuchen die Erlebnisse zu verdrängen“, sagt er mit leiser Stimme auf Russisch. Was Ali Dzhangaliev meint, ist die abenteuerliche Flucht aus der Kaukasus-Republik Dagestan, die seine Familie auseinandergerissen hat. Während seine Frau Svetlana mit vier Kindern bis nach Belgien kam und dort einen Asylantrag stellte, hat Ali mit vier weiteren Töchtern eine nun schon mehr als anderthalb Jahre andauernde Odyssee hinter sich, die ihr vorläufiges Ende im Kirchenasyl der evangelischen Kirchengemeinde Frankfurt fand. Seit Weihnachten vergangenen Jahres lebt der 36-jährige Tischler mit Asiyat (15), Mariam (11), Karina (10) und Milana (6) in einer kleinen Wohnung unter dem Dach des Gemeindehauses im Ungewissen. „Die tschetschenische Familie sitzt gewissermaßen zwischen Belgien und Polen“, sagt der Frankfurter Ausländerbeauftragte Michel Garand. Nach Belgien, zur Mutter und den Geschwistern, möchten Töchter und Vater gern; nach Polen, dem laut EU-Asylrecht „sicheren Drittland“, droht die Abschiebung durch die Bundespolizei.

Die schwere Erkrankung der an Diabetes leidenden Mariam verhinderte letztlich eine sofortige Abschiebung von Vater und Töchtern nach Polen. Stattdessen wurde die ausländische Familie ins Krankenhaus gebracht, ein Arzt alarmierte von dort aus den Brandenburger Flüchtlingsrat.

„Der Mediziner rief bei uns an, weil er nicht wusste, was er machen sollte“, erinnert sich Beate Selders vom Flüchtlingsrat. Sie vermittelte sofort eine auf Asylrecht spezialisierte Rechtsanwältin und informierte den Frankfurter Ausländerbeauftragten Garand. Der schließlich stellte einen Eilantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Duldung von Vater und Töchtern in Deutschland bis zu einer möglichen Familienzusammenführung. Das Amt hat Kontakt zu den belgischen Behörden aufgenommen, das Verfahren läuft noch.

Garand organisierte zudem das Kirchenasyl. „Es ist ein Möglichkeit, die tschetschenischen Flüchtlinge vorübergehend sicher unterzubringen, um in dieser Zeit mit den Behörden zu verhandeln“, begründet Garand seine Entscheidung. Die Kirchengemeinde helfe solange, bis alle gesetzlichen Möglichkeiten ausgeschöpft seien, sagt Pfarrerin Katharina Falkenhagen. Ihren Angaben zufolge wird der Aufenthalt durch Spenden der Gemeindemitglieder finanziert. „Die vier Mädchen brauchen diese Atempause. Sie sind verschlossen und sehr zurückhaltend, tauen nur auf, wenn sie mit anderen Kindern spielen“, beschreibt sie die Kinder.

Über die Umstände zu sprechen, welche die Familie letztlich zwangen, ihre Heimat zu verlassen, fällt Ali Dzhangaliev offensichtlich schwer. „Wir gehörten zur tschetschenischen Minderheit in Dagestan, wurden seit Jahren drangsaliert, politisch verfolgt und lebten in ständiger Angst“, erinnert sich der Familienvater und ringt um Fassung. Durchsuchungen, Erniedrigungen und Bedrohungen hätten jahrelang zum Alltag gehört. Im Freundes- und Familienkreis seien Personen einfach verschwunden oder ermordet worden, erzählt er weiter. An einem Sommertag 2009 war er mit den vier Töchtern gerade einkaufen, als ihn Freunde warnten, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Er tauchte mit den Mädchen unter, warnte seine hochschwangere Frau noch telefonisch und riet ihr, mit den anderen Kindern ebenfalls aufzubrechen. „Wir wollten auf jeden Fall nach Europa, weil dort Menschenrechte etwas gelten“, sagt Dzhangaliev. Er selbst kam mit den Kindern bis nach Weißrussland. Zweimal scheiterte die Weiterreise seiner Familie an der polnischen Ostgrenze. Beim dritten Anlauf gelangten sie bis Warschau, von da an per Anhalter bis nach Ostbrandenburg, wo die Bundespolizei die Reise vorläufig beendete.

Letztendlich sei egal, wo sie bleiben dürften – Hauptsache in Europa und zusammen, als komplette Familie, zu der mittlerweile noch ein neuntes Kind gehört, das er noch nie gesehen hat, erzählt der Vater leise. „Das Schlimmste ist die Ungewissheit und das untätige Warten“, sagt Alis älteste Tochter Asiyat, die sich um den Haushalt in der winzigen Wohnung und um ihre jüngeren Schwestern kümmert. Der Vater hilft im Pfarrhaus mit kleinen Hausmeisterarbeiten, repariert Stühle und Spielzeug im angegliederten evangelischen Kindergarten.

Dzhangaliev sagt: „Ich will mich irgendwie nützlich machen, um den Menschen zu danken, die uns so freundlich aufnahmen und uns helfen.“

Bernd Kluge

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