WIEDEMANN bildet: Achtung vor dem Alter?
In unserem Wanderurlaub in der Steiermark gab es zwei Episoden, die ich gern an dieser Stelle thematisieren möchte. Wir saßen in einem überfüllten Wanderbus, der uns von einer Endstation zu unserem Hotel fuhr.
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In unserem Wanderurlaub in der Steiermark gab es zwei Episoden, die ich gern an dieser Stelle thematisieren möchte. Wir saßen in einem überfüllten Wanderbus, der uns von einer Endstation zu unserem Hotel fuhr. In einer der folgenden Stationen stiegen viele ältere Damen ein, für die keine Sitzplätze mehr da waren. Der Blick auf sitzende – etwa 6 bis 10 jährige – Kinder wird von den Müttern und Vätern mit ziemlich stereotypen Hinweisen darauf abgetan, dass die Kleinen in dem schlingernden Bus auf kurvenreicher Strecke nicht im Gang stehen könne. Das die Eltern die Kinder hätten auf den Schoss nehmen können, wurde nicht thematisiert. Ein paar Tage später hat wiederum in einem Wanderbus eine erkennbar jüdische Familie zu sechst vier Plätze eingenommen. Wiederum steigen ältere Damen zu und diesmal bietet der etwa zehnjährige Sohn der Familie seinen Platz an, der wird aber nicht von einer der älteren Damen, sondern von einem etwa gleichaltrigen deutschen Mädchen eingenommen, die einfach schneller und cleverer war. Im Bus wird darüber gelächelt, auch von den älteren Damen und den Eltern und jüngeren Geschwistern des cleveren Mädchens.
Diese beiden Episoden haben uns angesichts der einheimischen Diskussionen um die Problemfelder sinkende Geburtenraten einerseits und dem damit zusammenhängenden Älterwerden der Gesellschaft mit all ihren problematischen Implikationen andererseits weiter beschäftigt.
Ich will das Ergebnis meiner Überlegungen hier zur Diskussion stellen: In meiner Kindheit habe ich gelernt, dass ich aufstehen und meinen Platz älteren Menschen anbieten soll, wenn diese keinen Platz in Bus oder Bahn finden. Diese gängige Verhaltensregel praktiziere ich bis heute, wenngleich ich sie auch deutlich weniger praktizieren muss, weil ich inzwischen selbst in diesem Alter bin. Meine Beobachtungen – nicht nur in Österreich! – lassen mich allerdings vermuten, dass das Aufstehen für ältere Menschen keine allgemein gültige Verhaltensregel mehr ist. Vielleicht liegt das ja zum Teil daran, dass unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger ja häufig durchaus an Fitness und Ausstrahlung mit Jüngeren mithalten wollen und können. Und natürlich möchte ich – noch! – nicht, dass ein Kind für mich aufsteht. Aber es gibt gebrechliche Menschen, die diese körperliche Fitness nicht mehr haben und die deswegen unserer besonderen Fürsorge bedürfen. Achtung vor dem Alter lässt sich allerdings nicht nur – aber auch! – daran festmachen, ob Kinder im Bus für Ältere ihren Platz frei machen. Es geht auch und insbesondere darum, wie wir alle damit umgehen.
Unser Autor Dieter Wiedemann ist seit zehn Jahren Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Film und Fernsehen sowie zur Aufarbeitung und Wertung des DEFA-Filmerbes und des DDR- Kinderfernsehens verfasst.
Dieter Wiedemann
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