Landeshauptstadt: Affen-Englisch bei den Zwergen
Wie sich künftige Potsdamer Erstklässler in Vorschule und Kita auf den Schulanfang vorbereiten
Stand:
Was soll ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, fragte die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich in ihren Untersuchungen zum „Weltwissen der Siebenjährigen“ (Kunstmann, 2001) und provozierte mit ihrer eigenen Wunschliste manche Diskussion zur vorschulischen Bildung. Ein siebenjähriges Kind, schreibt sie, sollte vier Ämter im Haushalt ausführen, verschiedene Tiere füttern können, zwei Zaubertricks beherrschen, Zungenbrecher sprechen und einige Worte Blindenschrift lesen. Außerdem sollte es Lieder und Reime in zwei Sprachen kennen, ein chinesisches Zeichen geschrieben, ein Musikinstrument gebaut und durch ein Teleskop geschaut haben ...
Von all dem, und die Liste ist noch lange nicht vollständig, sind viele Siebenjährige weit entfernt. Wo die einen schon bis 20 rechnen und ihren eigenen Namen schreiben, gelingt es anderen kaum, ein Bild auszumalen, ohne über den Rand zu kritzeln. Mitunter können sie den Stift nicht richtig halten, nicht sauber ausschneiden, kein Lied singen, keinen Reim aufsagen. Und die Schere geht weiter auseinander. Das unterschiedliche Bildungsniveau erschwert den Kindern vielerorts den gemeinsamen Start in den Schulalltag.
Auch deshalb engagiert sich die Potsdamer Grundschulleiterin Helga Reuter so vehement für eine reguläre Vorschule. Seit drei Jahren lädt sie die künftigen Erstklässler zweimal im Monat in die „Zwergenschule“ der Theodor-Fontane-Schule zum Probeunterricht ein. Die Klassenleiterinnen geben diese Stunden zusätzlich und unentgeltlich. Sie tun es freiwillig, weil sie wissen, wie sehr es vonnöten ist.
Still sitzen, nicht durcheinanderreden, dem anderen zuhören und sich melden, wenn man etwas sagen möchte – schon hier bauen sich für manche Kinder die ersten Hürden auf. Besorgt beobachtet Helga Reuter die zunehmende Sprachlosigkeit der Kinder: „Es fehlen ihnen buchstäblich die Worte.“ Immer weniger Kinder können vollständige Sätze bilden. Aufgefordert, zu einem Bild eine Geschichte zu erzählen, brächten manche nur einzelne Substantive hervor, hingeworfene „Brocken“ einer fremd gebliebenen Muttersprache.
Martina Hamel, die im August eine erste Klasse übernimmt, nutzt die Stunden in der „Zwergenschule“, um ihre künftigen Schüler genauer kennen zu lernen. Sie singt mit ihnen, liest vor und lässt erzählen. Ikuru, ein Englisch sprechender Plüschaffe, hilft ihr, die Neugier auf eine fremde Sprache zu wecken. Wenn die Kinder geometrische Figuren ausmalen und ausschneiden, kann sie deren Feinmotorik beobachten. Beim Kreistanz schließlich übt sie mit ihnen Schritt für Schritt das Zählen und Kombinieren.
Was die angehenden Erstklässler in der Vorschule gezeichnet, ausgeschnitten und geklebt haben, das sammeln sie wie Schätze in ihrem ersten Hefter, den sie stolz nach Hause tragen. Nicht selten fragen Eltern nach, was sie tun können in der verbleibenden Zeit bis zum Schulbeginn. „Das Angefangene fortführen“, wünscht sich Helga Reuter. „Dinge zu Ende bringen, Ausdauer entwickeln und Selbstständigkeit.“ Auch gemeinsam mit den Kita-Erzieherinnen, die die Kinder in die „Zwergenschule“ begleiten, lassen sich die sichtbar gewordenen Lücken bis zum Schuleintritt noch schließen.
Petra Adolph, Leiterin der Kita „Sonnenschein“ im Hans-Marchwitza-Ring, lässt solche Lücken erst gar nicht aufreißen. Für sie beginnt die Vorschulerziehung schon bei den Jüngsten. Sobald sie einen Stift halten können, fangen sie an zu malen und zu kritzeln. Bücher, Bausteine, didaktisches Spielzeug – Dinge, die in manchem Haushalt völlig fehlen, kommen hier gezielt zum Einsatz. Von Beginn an werden die Kleinen und ihre Eltern zum Reden und Erzählen ermuntert, besonders wichtig in Familien mit Migrationshintergrund. Und wo ernsthafte Sprachprobleme auftreten, gibt es frühzeitig logopädische Hilfe.
Nie hat Petra Adolph aufgehört, den Kindergarten als eine Bildungseinrichtung zu sehen, auch in den Wendejahren nicht, als den ostdeutschen Kitas Verschulung vorgeworfen wurde. Befreit vom ideologischen Ballast, von Reglementierung und Gleichmacherei, hat sie als Leiterin alle neuen Möglichkeiten genutzt, das Lernangebot für die Kinder noch zu erweitern. „Wo wir damals mit einfachsten Mitteln improvisieren mussten, gibt es heute die schönsten Lernmaterialien“, schwärmt sie inmitten des „Zahlenzimmers“, in dem die älteren Kinder verschiedene Mengen sortieren, wiegen, messen und vergleichen können. Ein anderer Raum mit Büchern, Schreibmaschine und Computer lädt zu ersten Buchstabenspielen ein. Um den Horizont zu erweitern, gehen die Vorschulkinder hinaus in die Waldschule oder besuchen das Exploratorium. Und alle lernen noch vor dem Schuleintritt das Schwimmen.
Zeit zum Spielen, Toben und Träumen bleibt den Kindern allemal, auch in der Internationalen Grundschule in Babelsberg, die im Herbst eine bilinguale Vorschule eröffnet. Spielerisch, in die normalen Tagesabläufe integriert, lernen die Kinder hier neben Deutsch auch Englisch zu sprechen, um dann in der ersten Klasse ohne Startprobleme mit dem zweisprachigen Unterricht beginnen zu können. Diese besondere Grundschule in freier Trägerschaft ist keineswegs Diplomatenkindern vorbehalten. Vielmehr folgt sie dem wachsenden Bedürfnis vieler Eltern, ihre Kinder weltoffen, anderen Kulturen gegenüber interessiert und aufgeschlossen zu erziehen. Und das beginnt mit dem Erlernen verschiedener Sprachen, je früher, desto leichter. Vor diesem Hintergrund erscheint Donata Elschenbräuchs Wunschliste gar nicht mehr so abwegig. Warum nicht sollte es zum „Weltwissen der Siebenjährigen“ gehören, Lieder und Reime in zwei Sprachen zu kennen und schon einmal ein chinesisches Schriftzeichen gemalt zu haben?
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: