DICHTER Dran: Alles ist erleuchtet
Die Saison geht los. Es wird wärmer, die Sonnenuntergänge fallen großzügiger aus.
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Die Saison geht los. Es wird wärmer, die Sonnenuntergänge fallen großzügiger aus. Das merken auch die Bäume. Aber ihr Laub wird nicht dicht genug, das Grün der Blätter nicht dunkel genug werden, um uns vor dem Lichteinfall zu schützen. Neulich strahlte es mir schon auf der Nuthe-Schnellstraße entgegen, als ich noch kurz hinter Teltow war. Da ist Babelsberg normalerweise noch nicht zu sehen. Die angestrahlten Autohäuser und Fastfoodketten verhindern das. Ihre unter Lichtbeschuss stehenden Fassaden blenden. Die Sonnenuntergänge werden von Symbolen für fettes Essen und preisgesenkte Autos gelöscht. Wer sich nicht ans Steuer klammert oder mit Xenon-Scheinwerfern ausgestattetet ist, rast wie auf Sirenen auf sie zu. So brachial ist ihre rückstrahlende Helligkeit, dass die Welt ringsum im Nichts versinkt. Aber jetzt hat die Saison angefangen. Babelsberg wird öfter schon von Beelitz-Heilstätten oder Nauen aus erkennbar sein. Von weitem sieht man ein Licht über den Himmel fluten, das die Fassadenbeleuchtung der Autohäuser schluckt, als wären es Funzeln. Es wird mich sicher nach Hause leiten. Ein eisblauer Wegweiser. Eine Heimleuchtung. Der Heilige Gral. Der Heilige Gral ist das Fußballstadion. Vier Flutlichter, die höher sind als der Babelsberger Rathausturm, schicken ihre donnernden Wellen über das gesamte Weberviertel. An Spieltagen können die Anwohner ihre Wohnzimmerlampen ausschalten und die Kerzen löschen; ihre Wohnungen werden dennoch gut ausgeleuchtet. Sie müssten eigentlich dankbar sein. Sie sparen Strom. Beim letzten Fußballspiel war ich nicht dankbar. Ich musste andauernd an das Tscherenkowlicht denken, das die Brennstäbe in den Abklingbecken von Kernkraftwerken abgeben. Ein ähnlich fahles Blau. Ich versuchte mich wegzuducken, aber neunzig Minuten sind für sowas zu lang. Ich versuchte, mich zu beruhigen: Da strömte eine ganz gesunde Lichtenergie über die Stadt, erzeugt mit Öl, Torf, Wind oder einem Sonnenuntergang. Kein Grund zur Panik. Und trotzdem. Ich sehe es schon vom Pazifik her über die Havel leuchten.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Rávic Strubel
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