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Landeshauptstadt: Alles ruhig im „Weißen Schwan“

Reporter Erhart Hohenstein erinnert sich an seine Erlebnisse als Wahlberichterstatter am 7. Mai 1989

Stand:

Das gehörte zum Geschäft: Auch bei den Maiwahlen 1989 klapperte ich für die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ die Wahllokale zwischen Innenstadt und Stadtrand ab. Seinen „bisher ruhigsten Wahltag“ verbrachte im „Weißen Schwan“ (der damaligen Gaststätte „Schlachteplatte“) Heinz L. Als Mitglied der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) erlebte der Hauptbuchhalter schon zum zehnten Mal als Wahlvorsteher, wie früh um sieben Uhr eine Rentnerin aus der Nachbarschaft als erste Wählerin den Freesienstrauß ergatterte, der im Handel kaum zu kriegen war. Er sah, wie über 90 Prozent der Wähler bis 12 Uhr die Stimme abgaben, denn das gehörte sich für einen treuen Staatsbürger; wie die Wahlzettel meist ungeprüft in den Urnenschlitz gesteckt wurden. Das hieß Ja für alle Kandidaten.

Schon vormittags waren Wahlhelfer in ihren privaten Trabis oder Wartburgs mit der Urne zu Wohnungen, Krankenhäusern und Altenheimen unterwegs, um Bettlägerigen ihr Votum abzufordern. Am frühen Nachmittag zog dann ein wenig Unruhe ein, denn noch immer gab es 13 „Wahlverweigerer“. Die Stasi hatte für ganz Potsdam 622 prognostiziert, aber es wurden dann fast 900. Erneut starteten die Wahlhelfer ihre Wagen, doch trotz aller „Überzeugungsarbeit“ blieben die meisten, soweit sie überhaupt auf das Klingeln reagierten, konsequent bei ihrer Ablehnung.

Identisch verlief der Wahltag im Pionierhaus (heute Malteser Treffpunkt) am Neuen Garten. Eine „ruhige und sachliche Atmosphäre“ bestätigten mir bei Fanfarenzug-Geschmetter der Kulturbund-Kandidat, Schriftsteller Walter Flegel, und Wahlvorsteher Gert H. Er hatte gerade eine „fliegende Wahlurne“ ins evangelische Altersheim Emmaushaus entsandt, um dort die Stimmen einzutreiben. Wenige Monate vor ihrem „100.“ habe auch die 99-jährige Ella Fay für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt, konnte ich berichten.

Als aber kurz nach 18 Uhr die Stimmenauszählung begann, erlebten nicht nur Heinz L. und Gert H. eine Überraschung. Ihnen war schon aufgefallen, dass mehr Wähler als sonst die Kandidatenzettel gründlich studiert und anschließend die Wahlkabine aufgesucht hatten. Nicht im Traum hätten sie aber gedacht, dass fast neun Prozent den Kandidatenvorschlag ablehnen würden. Gert H. wunderte sich auch über die Schar junger Potsdamer, die die Stimmenauszählung verfolgte, wozu jeder Wähler ein Recht hatte. Er wusste nicht, dass es sich dabei um Mitglieder der Gruppe „Kontakte“ handelte. Als oppositioneller Gesprächskreis an der Babelsberger Friedrichskirche entstanden, hatte sie in 28 Potsdamer Wahllokalen die Auszählung verfolgt. Dabei registrierte sie insgesamt 2192 Gegenstimmen: 8,95 Prozent. Im Pionierhaus zählte sie 33 Nein- bei 482 Ja-Stimmen. Dennoch wurde am nächsten Tag die übliche Jubel-Quote von fast 99 Prozent bekannt gegeben.

Die geradezu niederschmetternde Quote von Gegenstimmen hatte sich allerdings schon lange angedeutet. Nicht nur die Stasi registrierte die immer offener geäußerten Forderungen nach Menschenrechten, bürgerlichen Freiheiten, Rechtstaatlichkeit, Umweltschutz Die Offenheit, mit der etwa Ende März in der Ufergaststätte am Kiewitt auf dem Wählerforum in Potsdam-West der heutige Stadtpräsident Peter Schüler und andere Oppositionelle eine Umkehr in der DDR-Umweltpolitik forderten, wirkte auf Journalisten schockierend, die auf die DDR eingeschworen waren. Gleiches erlebte Berichterstatter Michael Erbach in Babelsberg, wo es massive Kritik wegen maroder Altbauwohnungen und der medizinischen Betreuung gab. In den Berichten („Auch Babelsberg soll noch attraktiver werden“) kam die aufgeheizte Atmosphäre nicht zum Ausdruck.

Scheinzugeständnisse sollten den Wahlerfolg sichern. So sollten die Kandidaten im Arbeitskollektiv geprüft werden. Außerdem durften Vereinigungen, sogar der Kleingärtnerverband, eigene Anwärter benennen. In der Gartensparte „Krähenbusch“ gelangte so die Vereinswirtin auf die Liste. Sie wurde aber durch das Kollektiv der Laubenpieper abgelehnt. Da ihr Mandatsträger und die Kreiswahlkommission trotz persönlicher Vorsprache des Vereinsvorstandes dieses Votum ignorierten, kam sie dennoch ins Stadtparlament. Triumphierend forderte mich danach die Wirtsfrau auf, meinen Freunden im Krähenbusch zu sagen: „Es sind die schlechtesten Früchte nicht, an denen die Wespen nagen!“

Erhart Hohenstein war von 1961 bis 2003 Lokalredakteur der BNN, später PNN

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