zum Hauptinhalt

Von Lene Zade: Als die S-Bahn noch bejubelt wurde

Eine Tagungsreihe der Universität Potsdam hat Berlins Metropolisierung seit 1871 untersucht

Stand:

Als Berlin Hauptstadt wurde, entstand der Plan, die Stadt mit neuen Verkehrsmitteln zu durchziehen. Es dauerte zehn Jahre, bis eine Idee verwirklicht war, die die Physiognomie der Stadt nachhaltig verändern sollte. Heute ist die S-Bahn so selbstverständlich, dass das Großstadtleben ohne sie nicht mehr vorstellbar scheint. Nimmt sie Schaden, ist es, als wäre der Kreislauf des Körpers der Stadt verletzt. So hat es sich wenigstens im vergangenen halben Jahr angefühlt.

Damals, im ausgehenden 19. Jahrhundert, schien die Stadtbahn die Materialisierung der Moderne zu sein. Nachlesen lässt sich das beim alten Fontane: „In langem Staunen sah ich die Stadtbahn entstehn. Ich sah sie ... wie eine riesige Raupe über die Hauptstadt kriechen.“ Oder bei Max Kretzer: „Ein dumpfes Ächzen und Stoßen wurde wahrnehmbar, heller Qualm wälzte sich über die Straße, und unter dem Zittern der Erde brauste die Stadtbahn heran, die ihren Siegeszug durch das Steinmeer von Berlin hielt.“

Beide Autoren wurden während einer interdisziplinären Konferenz am vergangenen Wochenende in Potsdam – um im Bilde zu bleiben, an einer der Endstationen der Raupe – als Zeugen aufgerufen, um die Veränderungen im nach der Reichsgründung 1871 Hauptstadt gewordenen Berlin nachzuvollziehen. Nicht nur durchzog ein qualmendes Ungetier auf extra freigelegten Strecken von nun an seine Bahnen, auch das „Steinmeer“ selbst veränderte sein Gesicht rasant. Mietskasernen wuchsen an einem Ende der Stadt, ans andere, in den Westen, zog das Großbürgertum, um unter sich zu bleiben – und in der Mitte, im Tiergarten, entstand ein urbaner Raum der Begegnung, so der Metropolenforscher Heinz Reif.

Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich die Stadt zu einer Industriemetropole, die nötigen Arbeitskräfte kamen mehrheitlich aus Osteuropa. Um die Jahrhundertwende bestand die Hälfte der Bevölkerung aus Eingewanderten. 100 000 kamen aus Polen und machten Berlin zur größten polnischen Stadt Preußens, führte Agnieszka Pufelska aus. Während sich die Arbeitsmigranten schnell in die Gesellschaft integrierten, wurde der Antislawismus zu einem Steckenpferd von Kulturnationalisten. Erst in Reaktion darauf begründeten Sozialdemokraten eine polnische Presse in der Stadt. In einer Stadt, die sich anschickte, zu einer Zeitungsstadt zu werden, was sie im europäischen Rahmen erst spät wurde, dann aber dank geschäftstüchtiger Unternehmer wie Mosse, Scherl und Ullstein innerhalb weniger Jahrzehnte (Bernd Sösemann).

Die Hugenotten waren hingegen schon seit dem 17. Jahrhundert in der Stadt und hatten sich in ausdrücklicher Loyalität zum Könighaus selbst zu Adoptivkindern der Hohenzollern gemacht, wie Manuela Böhm ironisch anmerkte. Erst als sie vollständig integriert waren, begannen sie ihre Tradition neu zu erfinden in Mythen, die sich wiederum in schriftlichen Zeugnissen und bildnerischen Dokumenten niederschlugen, so in Reliefs an Präsentationsbauten der Stadt wie dem Roten Rathaus.

Aber was macht eine Metropole aus? Verkehrschaos und Menschenmassen sind höchstens äußere Indizien, erst wenn diese Ausdruck eines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrums seien, könne von einer Metropole gesprochen werden, betonte Susanne Ledanff, die ihre beeindruckende Studie „Hauptstadtphantasien“ am Ende der Tagung vorstellte. So gesehen wäre Berlin heute kaum eine Metropole, denn mit der Industrie sind auch die wirtschaftlichen Kräfte der Stadt abhanden gekommen. Die Finanzmärkte, so sie nicht virtuell imaginiert werden, sondern sich in Bankgebäuden manifestieren, stehen auch andernorts. In angeregter Diskussion korrigierten die Kulturwissenschaftler, dass sich diese Sphären gesellschaftlichen Lebens in einer Spannung zueinander verhalten könnten.

Einen klugen, zugleich provokant formulierten Impuls erhielt die Tagung, die Schlusspunkt einer Reihe war, durch den Abendvortrag „Berlin ist zu groß für Berlin“ des Schauspielers Hanns Zischler. Statt jeweils rigoros zu rekonstruieren oder Unpassendes in das Stadtbild einzufügen, sollte Berlin in architektonischen Verdichtungsprozessen zu sich kommen und nicht aus immer neuen Brüchen immer neue Monumentalität generieren.

Die anschließend von Harald Arnold gelesenen lebensklugen Passagen Fontanes klangen da wie ein umgekehrtes Echo aus einer Zeit, die noch heute – wenigstens straßenweise – das Stadtbild bestimmt.

Lene Zade

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })