SAMSTAGScocktail: Antike Tränen
Vor zwanzig Jahren gab es in Alexandria, der berühmten ägyptischen Vielvölkerstadt am Mittelmeer, noch Strandabschnitte, wo Menschen badeten. Männer in Badehosen, Frauen in Badeanzügen.
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Vor zwanzig Jahren gab es in Alexandria, der berühmten ägyptischen Vielvölkerstadt am Mittelmeer, noch Strandabschnitte, wo Menschen badeten. Männer in Badehosen, Frauen in Badeanzügen.
Heute stehen an der Corniche, der Straße, die am Meer entlangführt, wuchtige Hochhäuser, Wohnblöcke und Betonruinen. An den ramponierten, durchlöcherten Fassaden hängen unter abgefetzten Markisen Balkone, die die Bewohner gar nicht oder als Abstellkammern nutzen. Aus vielen Hausaufgängen quillen Schutthaufen, auf denen manchmal wie zum Trost ein Teppich liegt. Gegenüber, auf der Mauer, die das Meer von der breiten gefährlichen Straße trennt, sitzen verschleierte Frauen und Frauen mit Kopftüchern, in Begleitung von Männern.
Inmitten des Schutts liegt die Bibliothek von Alexandria, neuerbaut als glatte, dem Meer zugewandte Sonnenscheibe. Ihre Vorgängerin war die bedeutendste antike Bibliothek. Hier lagerte das gesamte Wissen des Abendlandes.
Bewaffnete Sicherheitsposten achten darauf, ob andere Sicherheitsleute mich und meine Einladung sorgfältig kontrollieren, bevor ich drinnen mit einer Schar Kopftuch tragender Studentinnen über feministische Literatur rede. Darf eine Frau erotische Gedichte schreiben, obszöne Wörter verwenden? Darf sie sich überhaupt auf der Straße zeigen? Die beiden ägyptischen Autorinnen und eine Professorin tragen kein Kopftuch.
Später, auf dem Weg zum einzigen römischen Amphitheater Ägyptens, muss unser Bus wenden, weil Salafisten, wie es heißt, die Straße verbarrikadiert haben. Dann lauschen wir in dem strahlenden Theaterhalbrund auf unser Echo. Dahinter ragt wie zerschossen die Gegenwart auf. Zwischen rußigen Brandmauern und halben Häusern leuchtet fern das Meer, aber das Meer ist nicht mehr wichtig. Das Außen spielt längst keine Rolle mehr. Als ginge man sofort in die Irre, wenn man sich ihm überlässt.
Sicherer ist es, man bleibt drinnen, in abgedunkelten Räumen, wo man uns im schummrigen Licht kleiner Museumslämpchen an den Nationalschätzen weit entfernter Zeiten vorbeiführt.
Die meisten Besucher ignorieren die alte Geschichte. Sie gehen geradewegs in die oberste Etage, wo die moderne, heißt: islamische, Epoche ihren Auftritt hat. Ganz unten, im Keller, zeigt die Führerin derweil auf den kostbarsten Gegenstand des Hauses: eine winzig kleine blau schimmernde Vase aus der Pharaonenzeit, gerade groß genug für ein Gänseblümchen. Wenn die Männer zu lange fort blieben, sammelten die Frauen ihre Tränen darin. Es gab tatsächlich keinen größeren Beweis der Liebe als dieses bis oben gefüllte Väschen.
Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien ihr Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.
Julia Schoch
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