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Von Matthias Matern: Auf Streife im Sperrkreis

Gestern wurde die 122. Fliegerbombe seit 1990 entschärft. Mehr als fünf Meter tief lag der Blindgänger in der Erde

Von Matthias Matern

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Nikolaus Skaljin hat reichlich Proviant dabei. „Kaffee, Tee und etwas zu essen“, berichtet der 55-jährige Mitarbeiter im Potsdamer Jugendamt gut gelaunt. Um sechs Uhr morgens ist er an diesem Tag aufgestanden; rund eine halbe Stunde früher als sonst. Geduldig steht er mit rund 200 Kollegen aus der Stadtverwaltung in der Schlange vor dem zum Schreibpult umfunktionierten Biertisch im Hof der Feuerwache an der Holzmarktstraße und wartet, dass er registriert wird. Es ist 7.20 Uhr. Noch sind es rund viereinhalb Stunden, bis Sprengmeister Manuel Kunzendorf vom Humboldtring aus Entwarnung geben wird. Wieder einmal wurde in Potsdam ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Fünfeinhalb Meter tief hat sich die 250 Kilogramm schwere US-Fliegerbombe ins Erdreich gebohrt. Wo sonst ausgelassen gequatscht, geflirtet und gekichert wird, markiert nun ein mit Beton ausgekleideter Krater das explosive Erbe: Es ist der Pausenhof der Lenné Gesamtschule im Zentrum Ost.

Nikolaus Skaljin und die anderen Verwaltungsmitarbeiter sind zum Sicherheitsdienst eingeteilt. Um den Bombenfund hat die Stadt einen Sperrkreis von rund 500 Metern eingerichtet. Sogar der Luftraum ist bis in eine Höhe von 1000 Metern von der Deutschen Flugsicherung gesperrt worden. Bis acht Uhr müssen sämtliche Anwohner das Gebiet verlassen haben, Kitas und Geschäfte geschlossen sein. Rund 6500 Menschen sind nach Angaben der Stadt betroffen. Wer es nicht aus eigener Kraft schafft, wird auf Wunsch von der Feuerwehr abgeholt und in Sicherheit gebracht. Mehr als 120 Personen müssen die Einsatzkräfte im Laufe des frühen Vormittags einsammeln.

Andere könnten den Sperrkreis wohl verlassen, wollen es aber offensichtlich nicht. Deshalb schickt die Stadt einige ihrer Mitarbeiter auf Streife durch Straßen im Umfeld der Bombe. Auch Skaljin ist einem der fünf sogenannten Evakuierungstrupps zugeteilt. Angst hat er nicht. „Als Potsdamer hat man ja Erfahrung“, meint der Mann vom Jugendamt. Der Blindgänger auf dem Schulhof ist die 122. Weltkriegsbombe, die seit 1990 in Potsdam entschärft werden muss. Trotz ihres beachtlichen Alters ist ihre Sprengkraft noch enorm. Sollte sie explodieren, würde sie einen bis zu sechs Meter tiefen und bis zu 20 Meter breiten Krater aufreißen, Fenster und Türen der benachbarten Häuser zersplittern, erzählt Manuel Kunzendorf vom brandenburgischen Kampfmittelbeseitigungsdienst später.

Dennoch gehen einige Anwohner immer wieder leichtfertig mit der potenziellen Gefahr um, weiß Ordungsamtmitarbeiterin Elke Hausdorf. „Wie viele Entschärfungen ich mitgemacht habe, kann ich gar nicht mehr sagen“, meint die 47-Jährige und winkt ab. Gerade führt sie ihren Evakuierungstrupp direkt an der Bombenfundstelle vorbei. 23 Kollegen wurden ihr zugeteilt. In gelben und orangenen Warnwesten klappern sie alle Hauseingänge ab und drücken auf die Klingelknöpfe. „Manche sagen einfach, sie hätten verschlafen“, berichtet Hausdorf. Ältere Menschen dagegen würden oft auf ihre Kriegserfahrung verweisen, meinen, dann würden sie auch dies unbeschadet überstehen. Mittlerweile ist es viertel vor neun, wie verlassen wirken die Wohnblocks. Nur Sirenen der Feuerwehr und Lautsprecherdurchsagen der Polizei durchbrechen die Stille.

Während einige aus Hausdorfs Truppe bereits ihre Stullen auspacken, wird eine andere Kollegin plötzlich stutzig. Hinter einem Fenster im zweiten Stock hat sich eine Gardine bewegt. „Da ist definitiv noch jemand in der Wohnung“, sagt sie und blickt nach oben. Erst nach mehrmaligem Klingeln erscheint ein älterer Mann mit Thermoskanne und Regenschirm in der Eingangstür und guckt überrascht. Ob er nicht gewusst habe, dass er längst den Sperrkreis hätte verlassen müssen? „Wir wollten gerade los, mussten nur noch etwas einpacken“, sagte er und lächelt gelassen. Hausdorf schüttelt den Kopf. Erst als der Mann mit seiner Frau ins Auto steigt und davonfährt, zieht der Trupp weiter. Erst gegen kurz nach elf gilt der gesamte Bereich als komplett geräumt. Bei Erbsensuppe mit Bockwurst und Kaffee versammeln sich Skaljin, Hausdorf und die anderen Helfer wieder auf dem Hof der Feuerwehr. Die Stimmung ist gut, erinnert fast an einen großen Betriebsausflug.

Auf dem Schulhof dagegen herrscht höchste Konzentration. Immer wieder muss Grundwasser abgepumpt werden. Über die Jahrzehnte ist der Blindgänger in seinem schlammigen Bett aus Torf und Bauschutt stark angerostet. Eine dicke Schlackeschicht erschwert Kunzendorf lange den Zugriff an den Zünder. Nach rund 35 Minuten ist es letztlich doch geschafft, der erfahrene Sprengmeister ist erleichtert. Vor knapp 20 Jahren hat er seine erste Bombe entschärft. Mittlerweile sind es mehr als 580. Routine? Kunzendorf schüttelt den Kopf. „Bei jeder Entschärfung können neue Probleme auftauchen“, sagt der 51-Jährige ernst.

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