
© A. Klaer
Demokratiebus in Potsdam: Aufarbeitung im Nahverkehrsmittel
Aus Anlass des 80. Jahrestages der Bücherverbrennung tourte der Demokratiebus mit einem Vorlese-Experiment durch Potsdam
Stand:
Am heutigen 10. Mai jähren sich zum 80. Mal die öffentlichen Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten auf dem Berliner Opernplatz und in mehr als 20 anderen deutschen Universitätsstädten. In Gedenken an diesen Tag hat die Stadt Potsdam mit Partnern am Mittwoch einen Vorlesemarathon in dem sogenannten Demokratiebus veranstaltet. Einen Tag lang lasen Schüler und wichtige Akteure der Stadt in diesem Bus, der auf der Linie 695 unterwegs war, Texte von verbotenen Autoren. Für eine Stunde waren die PNN dabei.
Bahnhof Pirschheide 13.28 Uhr. Der Vorlesebus mit den hellen Farben und Aufschriften hat Verspätung. Nach kurzem Halt schaukelt das Gefährt los. Dort, wo sonst die Kinderwagen parken, stehen zwei Männer mit roten Schals in dem fast leeren Bus. Vor dem nächsten Sitz ist ein Mikro installiert. Sonst lässt nichts erahnen, dass hier eine Aktion stattfindet. „Gleich gehts los“, verspricht Martin Kühn, Veranstalter und Geschäftsführer des Neuen Potsdamer Toleranzedikts. Als eine Schulklasse an der nächsten Haltestelle einsteigt, beginnt Daniel Behrmann vom Verein Soziale Stadt aus Anna Seghers’ „Grubetsch“ vorzulesen.
Neues Palais, 13.35 Uhr. Drei Rentnerinen steigen ein. Eine von ihnen lehnt ab, als Kühn ihr eine Broschüre anbietet. Sie hört auch nicht zu, als vorgelesen wird. Die Aktion kenne sie nicht, sagt sie, aber die Bücherverbrennung. „Die auf dem August-Bebel-Platz? 1938 war das.“ Als alle klatschen, klatscht sie mit. Maxie Borchert, Schülerin der Sportschule, hat gerade ein Gedicht von Erich Kästner rezitiert: „Die Balade vom Nachahmungstrieb“. Eine polnische Familie steigt ein, sie nimmt dankend die Broschüre, der große Sohn versteht Deutsch.
Orangerie, 13.40 Uhr . Immer mehr Menschen mit Fotoapparaten, Stadtplänen und kleinen Wasserflaschen am Rucksack steigen ein. Inzwischen ist der Bus so voll, dass die Broschüren unter einem Sitz im Karton verstaut liegen bleiben und gar nicht verteilt werden können. Der Bus ist laut, das Mikrofon leise. Ein Mann kämpft mit dem Automaten um den korrekten Fahrschein. Von dem Text, den Simon Kuntze, Pfarrer der Friedenskirche vorliest, dringt kaum etwas in die Wahrnehmung.
Brentanoweg, 13.42 Uhr. Einer Touristin aus München, die zum Hauptbahnhof fährt, gefällt die Aktion. Schon auf der Hinfahrt sei sie mit dem Vorlesebus gefahren und wisse, worum es sich handele. „Die Texte gehen zwar meist unter, aber es ist sehr gut, dass Schüler das vorbereitet haben und sich mit der Bücherverbrennung beschäftigen“, sagt sie.
Hauptbahnhof, 13.55 Uhr. Der Bus macht Pause. Sportschülerin Maxie Borchert schnappt frische Luft, sie wird noch eine Runde mitfahren. Eine „coole Sache“ sei der Vorlesebus, endlich mal Geschichte lebensnah. Auch Birgit Schröder, Mitveranstalterin der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie, findet die Aktion „total gelungen“. Eigentlich sollte der Demokratiebus, den Schüler des Leibniz-Gymnasiums und der Voltaire-Schule gestaltet hatten, schon am 20. März der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Doch der Demokratiegedanke ging nach dem Eklat vor der Garnisonkirche am Vorabend des 80. Jahrestages des „Tags von Potsdam“ unter. Gerade deswegen sei der Vorlesebus heute so wichtig, sagt Schröder. Sie habe unter den Fahrgästen viele erstaunte Gesichter gesehehen. „Die Franzosen heute Vormittag waren total beeindruckt.“ Und die Leute von hier? „Die Potsdamer gucken, wie sie immer gucken“, sagt sie lachend. „Aber sie haben es wohlwollend aufgenommen.“
Alter Markt, 14.13 Uhr. Jennifer Zietz vom 1.FFC Potsdam liest aus „Ede und Unke“ von Alex Wedding vor. Noch ist es überschaubar im Bus, die Fahrgäste hören zu. Die Schauspieler Jan-Kaare Koppe und Andrea Thelemann vom Hans Otto Theater setzen sich gar nicht erst, sondern tragen stehend und zum Publikum gewandt Gedichte von Erich Kästner vor. Die Zuhörer sind begeistert von den Profi-Vorlesern. „Die Aktion hat etwas Flashmob-Artiges“, sagt Koppe. Thelemann ist skeptisch, ob die anderen Vorleser auch ihr Publikum in einem Bus erreichen können. Für sie ist es ein Experiment. Und deswegen hat der Vorlesebus wohl auch etwas Unfertiges. Erst am Tag zuvor habe sie die Passagen erhalten. Mit etwas mehr Vorbereitung hätten sie auch mehr Texte gelesen, sagt Thelemann. Am Ende der Route nach Pirschheide gehen den Veranstaltern denn auch die Vorleser aus. So lesen die Schauspieler und Schülerin Borchert eben noch mal das Gleiche. Mit Gewinn: Die Ballade, die Borchert vorträgt, geht Thelemann „richtig unter die Haut“.
Grit Weirauch
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