Homepage: „Aufklärung ist ein unendlicher Prozess“
Am 12. Februar jährt sich zum 200. Mal der Todestag Immanuel Kants: Ein Gespräch mit Andrea Kern und Stefan Gosepath von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam über die heutige Wirkung des Philosophen
Stand:
Am 12. Februar jährt sich zum 200. Mal der Todestag Immanuel Kants: Ein Gespräch mit Andrea Kern und Stefan Gosepath von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam über die heutige Wirkung des Philosophen Sie können sich vielleicht an die ZDF-Show erinnern, die jüngst nach dem wichtigsten Deutschen fragte. Immanuel Kant landete auf Rang 43. Philosophen hätten da bestimmt eine andere Wahl getroffen? Gosepath: Absolut. Kant ist einer der wichtigsten Deutschen. Kern: Natürlich. Gosepath: Wenn Sie Philosophen fragen würden, würde ich wetten, dass als bedeutendster Philosoph Kant genannt würde. Kern: Es gibt sehr viele philosophische Schulen, die sich in vielen Fragen uneins sind, aber es ist evident, dass Kant in allen philosophischen Traditionen ein unbestrittener Bezugspunkt ist. Wer zählt zu den bedeutendsten Nachfahren Kants, wer hat sich an ihm gerieben? Kern: Die gesamte Philosophie nach Kant. Hegel hat sich an Kant abgearbeitet. Nietzsche. Heidegger. Ein ganz interessantes Phänomen ist, dass in der zeitgenössischen amerikanischen Philosophie gerade eine Wiederentdeckung von Kant stattfindet, vor allem für Fragestellungen aus dem Bereich der Theoretischen Philosophie. Wer sind dabei die Protagonisten? Kern: John McDowell zum Beispiel, ein sehr bekannter analytischer Philosoph. Er hat in einem Interview gesagt „Kant ist der Größte". Ich kann dem nur zustimmen. Susan Neiman, die Direktorin des Einstein Forums Potsdam, hat ein beachtetes Buch zu Kant geschrieben: „Die Einheit der Vernunft“. Gosepath: Das ist wiederum eine andere Schule. Susan Neiman ist Schülerin von John Rawls, der 2002 verstorbene Autor der „Theorie der Gerechtigkeit“. Alle seine Schüler sind Kantianer. Insofern hat er die Kant-Rezeption im Amerika maßgeblich geprägt. Welche Nägel hat Kant eingeschlagen, die noch heute belastbar sind? Gosepath: Die kritische Philosophie, der Versuch, alle Regeln sowohl in der Erkenntnis wie der Moral aus dem eigenen Verstande abzuleiten durch eine bestimmte Art von Reflexion. In der praktischen Philosophie ist natürlich am bekanntesten der „Kategorische Imperativ“ als Moralphilosophie, der heute auch bei vielen Positionen inhaltlich als gültig angesehen wird. Die theoretische Philosophie ist umstrittener Kern: Ich würde auch sagen, in der praktischen Philosophie war die Bedeutung Kants immer klarer gewesen, nicht zuletzt wegen der Formulierung des „Kategorischen Imperativs“: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein kann“. Das ist eine Formulierung des Moralprinzips, an der keine Moralphilosophie vorbei kann. Aber ich würde sagen, dass sich auch in der Theoretischen Philosophie gerade in der letzten Zeit etwas gewandelt hat. Da wird Kants Philosophie in neuer Weise fruchtbar gemacht für die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen der Welt des Geistigen und der Welt des Natürlichen zu verstehen haben. Diese Problematik beschäftigt uns ja alle gerade nicht zuletzt deswegen wieder, weil manche Neurobiologen die Ergebnisse ihrer Forschung so verstehen, dass damit genau das bestritten wird, was Kant an den Anfang seiner Philosophie gestellt hat: die Idee, dass wir Menschen frei sind, dass wir selbstbestimmt denken und handeln können. Kant hat gesehen, dass wir das nicht bestreiten müssen, um uns dennoch als Teil der Natur begreifen zu können. Diese Einsicht war wirklich ein philosophischer Meilenstein. Wir müssen sie offenbar gerade wieder zurückgewinnen. Kann Kant Beiträge zu aktuellen Ethik-Debatten leisten? Zur Genetik, zur Embryonenforschung, etwa mit der Beantwortung seiner Frage „Was ist der Mensch?“? Kern: Nach Kant ist der Mensch dadurch definiert, dass er ein Vernunftwesen ist. Können menschliche Embryonen nach Kant Rohstoff sein für die Gewinnung von Stammzellen? Kern: Schwierig zu beantworten, denn das ist eine ganz konkrete Frage innerhalb der Ethik. Ich glaube, man würde die Kantische Ethik missverstehen, wenn man sie als Regelwerk verstehen würde, das wir nur anwenden müssten, um konkrete praktische Fragen beantwortet zu bekommen. Wir selber müssen herausfinden, ob das, was wir tun, moralisch richtig ist, ob es mit der Idee eines vernünftigen Wesens vereinbar ist. Gosepath: Das ist das Problem, Embryonen haben keine Vernunft, weshalb solche Grenzfälle mit der Kantischen Ethik schwierig zu entscheiden sind. Das heißt nicht, dass wir Wesen, die momentan noch keine Vernunft besitzen, als Rohstoff behandeln dürfen, aber sie sind noch nicht vernünftige Wesen in dem Sinne, dass sie Interessen haben. Kern: Nach Kant könnten wir sagen, sie sind potentiell vernünftige Wesen. Wir müssen Embryonen zur Gattung jener Wesen zählen, die Vernunft ausbilden können. Kant hat gefordert, der Mensch darf nie Mittel zum Zweck sein, sondern nur „Zweck an sich selbst“. Gosepath: Er darf nicht nur Mittel zum Zweck sein. Wenn ich Sie bitte, mir ein Bier zu holen, gebrauche ich Sie auch ein Stück weit. Da sind Sie auch Mittel zum Zweck. Aber das ist nicht schlimm, wenn ich Sie auch als Zweck an sich selbst achte. Kern: Anders ausgedrückt: „Zweck an sich selbst“ sind Sie, wenn Sie dem zustimmen, was sie tun. Kant wähnte sich im „Zeitalter der Aufklärung“ und hoffte auf ein kommendes „aufgeklärtes Zeitalter“. Leben wir heute in einem aufgeklärten Zeitalter? Kern: Aufklärung heißt, seinen Verstand aktiv und selbsttätig zu gebrauchen. Auch die Menschen in der Antike haben das getan. Insofern haben auch die Philosophen der Antike zur Aufklärung beigetragen. Gosepath: Aufklärung als Philosophie, sicher, aber politisch war das zu Kants Zeiten nicht umgesetzt. Deshalb auch nochmal der Aufruf von Kant an den Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Moralisch und politisch heißt das, der Mensch ist nur an Regeln gebunden, die er sich im Prinzip selbst hätte geben können – und nicht an fremde Regeln. Das ist natürlich ein anti-absolutistisches Denken gegen einen Obrigkeitsstaat, der von oben diktiert. So war aber noch die politische Zeit von Kant. Das hat sich ein Stück weit geändert. Man kann grob sagen, dass es einen ziemlichen Konsens gibt, dass die Demokratie die richtige Staatsform heute ist. Selbst wenn sie nicht perfekt umgesetzt ist. Die Idee der Selbstgesetzgebung ist politisch heute ein allgemeines Ideal. Eine andere Frage ist: Sind wir uns über alle Phänomene, die uns beeinflussen, bewusst? Werden wir nicht durch eine bestimmte Art von Denken oder Warenkonsum, von Werbung, letztendlich doch fremdbestimmt? Hat unsere persönliche und unsere politische Selbstbestimmung in der Moderne vielleicht auch abgenommen? In der Hinsicht sind wir immer gefährdet. Kant hat in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ zur Abwendung von Kriegen gefordert, das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein. Kant, ein Vordenker des Völkerbundes, der Vereinten Nationen? Gosepath: Er hat mit dem „ewigen Frieden“ praktisch den Entwurf für den Völkerbund geschrieben. Und das Programm des gerechten Umgangs der Völker miteinander ist ja immer noch nicht umgesetzt worden. Kant lieferte das Ideal dafür, wie das Verhältnis der Staaten untereinander auf eine friedliche Art gerecht geregelt werden sollte. Er ist der Vordenker der Globalisierung – einer Globalisierung, die politisch nach Prinzipien der Gerechtigkeit und Selbstbestimmung abläuft. Doch was wir dafür an Regelwerk brauchen, haben wir noch gar nicht richtig umgesetzt. Kern: Insofern kann man sagen, Aufklärung ist ein unendliches Projekt. Es ist nicht mit Kant auf die Welt gekommen, Kant hat die Idee der Aufklärung nur auf den Begriff gebracht. Das Projekt der Aufklärung gibt es, seit es Menschen gibt, die nachdenken können. Gibt Kant Kritikern der US-Außenpolitik Argumente in die Hand, etwa wenn er fordert, kein Staat darf sich gewaltsam in die innere Verfassung eines anderen Staates einmischen? Gosepath: Mit dem Kantschen „Ewigen Frieden“ ist die Irak-Politik der USA nicht vereinbar. Nietzsche hat noch von der „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung“ geschrieben. Ist das angesichts der deutschen Irak-Politik heute nicht mehr der Fall? Kern: Die Deutschen gibt es sowieso nicht. Ich würde sagen nein. In einem gewissen Sinn kann niemand aufklärungsfeindlich sein, wenn man die Idee der Selbstbestimmung für den Grundgedanken der Aufklärung hält. Jeder Mensch muss sich doch fragen, wie er sich zu seinem eigenen Leben stellen soll, welche Entscheidungen er in seinem Leben fällen soll, was er für richtig halten soll, was er für wahr halten soll. Wenn das menschliche Leben unter anderem im Beantworten solcher Fragen besteht, dann heißt das, man kann es nur von der Idee der Selbstbestimmung her verstehen. Natürlich bedeutet das auch, man muss mutig sein. Ich lebe mein Leben selbstbestimmt, heißt, ich muss die Verantwortung dafür übernehmen, die Konsequenzen dafür tragen, muss die Kritik einstecken, die ich dafür bekomme. Sich davon zu entlasten ist ein verständliches Bedürfnis. Manchmal ist frei zu sein schwierig. Gosepath: Es gibt ja diese These, dass Nietzsche sozusagen das Gegengift zu Kant in Deutschland sei, dass Nietzsche in der romantischen Bewegung bis ins 20. Jahrhundert hinein sehr dominant gewesen sei und wir in Deutschland den Kant nicht genug geschätzt haben. Ich bin nicht sicher ob das stimmt. Der Kantianismus hat auch in Deutschland immer wieder Revivals gefeiert, in der Bevölkerung wie in der akademischen Wissenschaft. Von Schiller stammt die Frage „Warum versinkt die Menschheit, statt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neuer Art von Barbarei“? Haben sie eine Antwort? Gibt es Grenzen der Aufklärung? Kern: Grenzen der Vernunft. Offenbar geschieht mehr im menschlichen Leben als durch Vernunft. Manchmal etwa können gesellschaftliche Bedingungen entstehen, die die menschliche Vernunft beschränken. So wie ein guter Weinstock nur auf einem guten Boden wächst, kann sich die Vernunft nur entfalten, wenn die Bedingungen dafür gut sind. Ist das nicht der Fall, kommt es zu falschen, nicht-vernünftigen Entscheidungen. Könnte Kants Denken auch in der arabischen Welt eine Wirkung entfalten? Gosepath/Kern: Ja! – oder ist diese Frage bereits anmaßend? Gosepath/Kern: Nein! Gosepath: Kant ist ja ein Universalist, der die These aufstellt, dass die Prinzipien der Vernunft für alle Menschen gleich gelten, egal wo sie sind. Und dass sie auch gerade ein Zusammenleben aller Menschen, egal welche Anschauung sie haben, regeln sollen. Kant ist auch ein Toleranzphilosoph: Toleranz ist ein Gebot der Vernunft. Für das Zusammenleben, müssen wir uns in unseren Ansprüchen bescheiden. Ich kann nicht ständig fordern, dass das, was ich richtig finde, auch alle Nachbarn seelig machen soll. Wir müssen uns zurücknehmen, damit wir, wie er es nennt, im öffentlichen Vernunftgebrauch unserer gemeinsames Zusammenleben friedlich und gerecht regeln können. Das ist etwas, was gerade hier in Potsdam eine gewisse politische Tradition hat. Mit Friedrich II.? Gosepath: Ein aufgeklärter Monarch – ein absolutistischer Herrscher, aber aufgeklärt. Die Toleranzidee wird ja von Friedrich II. ernst genommen. Er holt andere Religionen in den Berlin-Brandenburgischen Raum, die Hugenotten zum Beispiel, und lässt ihnen ihre Religionsfreiheit. Für ihn gilt „jeder soll nach seiner Façon seelig werden“. Und er akzeptiert zum Beispiel auch, dass die Gesetze für alle gelten, auch für den König. Der König ist der oberste Diener seines Staates. Das heißt, den Regeln dieses Staates hat er auch selber zu folgen. Er unterwirft sich als König den Rechtsstaatsprinzipien seines Landes. Der Wille des Königs ist nicht mehr das Gesetz, statt dessen gibt es ein allgemeines Gesetz und der König hat sich dem genauso zu unterwerfen wie seine Untertanen. Was erwarten Sie persönlich vom Kant-Jahr? Kern: Tolle Aufsätze (lacht). Vielleicht eine intensivierte Beschäftigung mit Kant. Gosepath: Mehr Öffentlichkeit. Wissenschaftlich kann gar nicht so viel mehr passieren, weil Kant immer aktuell ist. Aber ich hoffe, dass diejenigen, die den Namen Kant schon mal gehört haben, doch mal was über ihn lesen, vielleicht auch ein paar Zeilen von ihm lesen und ihn als Philosophen und Denker ernster nehmen. So dass Kant bei der nächsten Wahl des wichtigsten Deutschen wesentlich weiter oben landet. Das Interview führte Guido Berg.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: