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Mobilmachung. Auch die deutschen Juden teilten die Kriegseuphorie 1914.

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Diskriminierende Statistik: Die Judenzählung von 1916 im Fokus der Potsdamer Gespräche

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Er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, verkündete Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914. Von seiner berühmten „Burgfriedensrede“ fühlten sich auch die deutschen Juden angesprochen. Mehrheitlich teilten sie die Kriegseuphorie im Deutschen Kaiserreich und eilten freiwillig zu den Waffen. Indem sie damit ihre patriotische Gesinnung unter Beweis stellten, erhofften sie sich nunmehr die völlige gesellschaftliche Gleichbehandlung. Als der erwartete rasche Sieg jedoch ausblieb und sich der Krieg hinzog, machte sich auch im Militär der Antisemitismus wieder bemerkbar. Immer häufiger beschuldigte man jüdische Soldaten als Drückeberger, bis schließlich am 11. Oktober 1916 der preußische Kriegsminister eine „Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden“ anordnete.

Über diese sogenannte Judenzählung und ihre weit reichenden Folgen diskutierten der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ), Julius H. Schoeps, und der Historiker Thomas Brechenmacher von der Universität Potsdam im Rahmen der Reihe „Potsdamer Gespräche“ unlängst im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte.

Um zu zeigen, wie stark deutsche Juden im Sommer1914 von der Kriegseuphorie ergriffen wurden, erinnert Schoeps an die patriotischen Bekenntnisse des Malers Max Liebermann, des Publizisten Alfred Kerr und besonders des Lyrikers Ernst Lissauer, dessen „Hassgesang gegen England“ zu einem der populärsten deutschen Kriegslieder wurde. Auch sein Großvater sei, wie viele konservative Juden zu dieser Zeit, ein Anhänger des Kaisers gewesen und habe als Stabsarzt im Ersten Weltkrieg gedient, erzählt er.

Rund 100 000 deutsche Juden kämpften an den Fronten. Entsprechend enttäuscht und empört reagierten sie auf die Judenzählung, die sie als bitteren Verrat empfanden und als Bruch der bisherigen, im 19. Jahrhundert begonnenen Emanzipations- und Assimilationspolitik, welche allerdings stockend und einseitig verlief. Denn viele Nichtjuden standen damals einer deutsch-jüdischen Symbiose von Anfang an misstrauisch gegenüber, wie der Historiker Schoeps einräumt. So hatte schon 1915 die zu Kriegsbeginn noch untersagte judenfeindliche Hetze wieder eingesetzt. Antisemitische Parteien wie der „Reichshammerbund“ hatten ihre Kampagnen sogar noch verschärft, indem sie nun an das Kriegsministerium zahlreiche Eingaben schickten, worin den jüdischen Soldaten Feigheit vor dem Feind vorgeworfen wurde. Dass die Regierung diesem Druck nicht standgehalten, sondern sich ihm mit dem Erlass der Judenzählung gebeugt hat, bezeichnet Thomas Brechenmacher als fatalen Fehler. Erstmals hatte sie eine Erklärung mit antisemitischer Tendenz herausgegeben und die deutschen Juden zur Zielgruppe gesonderter Behandlung gemacht, wodurch sich die Antisemiten in ihrer Propaganda bestätigt fühlten. Erst recht als die Ergebnisse der Erhebung nicht einmal veröffentlicht wurden und man die Bemühungen mehrerer jüdischer Verbände, die Vorwürfe mit eigenem Datenmaterial eindeutig zu widerlegen, als Rechtfertigungsgebaren abtun konnte.

Für Julius Schoeps stellt die Judenzählung in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte eine Zäsur dar. Sie demonstrierte den jüdischen Soldaten, dass ihr Patriotismus und ihre Kriegsopfer nicht anerkannt wurden, trug mit dazu bei, dass sich nach dem Krieg die Kluft zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland noch weiter vertiefte und leitete, so Schoeps’ These, bereits den Ausgrenzungsprozess ein, der 1933 in staatlichen Terror und schließlich in die Katastrophe mündete. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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