Homepage: „Beharren auf Opferrolle kann lähmen“
Eine Tagung am Einstein Forum fragt nach dem Bedeutungswandel des Opferbegriffs und seinen Folgen
Stand:
Das Einstein Forum beschäftigt sich in seiner zentralen Sommertagung mit „Opfern und Verlierern“. Am 9. und 10. Juni werden zahlreiche Gelehrte, Forscher und Autoren im Einstein Forum am Potsdamer Neuen Markt über den Begriff des Opfers und seinen inflationären Gebrauch in der Gegenwart nachdenken. Die PNN sprachen mit einem der Organisatoren, Dr. Martin Schaad, vom Einstein Forum.
Herr Schaad, „Opfer und Verlierer“, wie passt das zusammen?
Wie der Konferenztitel schon suggeriert, haben wir erst einmal die Unschärfe zwischen Verlierer und Opfer im Auge. Wo diese Linie verläuft, soll die Tagung klären. Als Hypothese lässt sich bereits sagen, dass sich mit der Statuszuschreibung Opfer oder Verlierer der Blick auf Verantwortlichkeiten grundlegend ändert. Etwa was die Selbstverantwortung des wie auch immer Geschädigten betrifft.
Wieso eine Tagung zum Opfer?
Der Begriff Opfer und Opferdiskurse sind heute allgegenwärtig. Es gibt eine Großzahl von Einzelpersonen, Gruppen, Völkern und Nationen, die für sich aus einer Vielzahl von Gründen einen Opferstatus reklamieren. Hier gibt es einen kulturgeschichtlichen Bedeutungswandel. Seit den Weltkriegen und dem Holocaust wurde der Begriff Opfer langsam aber sicher positiv besetzt. Das Opfersein ist zumeist auch mit Ansprüchen oder moralisch positiven Werturteilen verknüpft.
Was ist von der Allgegenwärtigkeit der „Opfer“ zu halten?
Die Inflation des Opferbegriffs ist gewissermaßen etwas erschreckend. Wenn jede Tierschutzorganisation den Holocaust ausruft, dann verschwimmen die Begriffe. Wir haben heute Opfer der Globalisierung, von Völkermorden oder von Hurrikans.
Dass viele heute Opfer sein wollen...
...war vor dem Ersten Weltkrieg völlig undenkbar. Damals war das Opfersein eher ein Sich-opfern als ein Opfer von Gewalt zu sein. Dies hat der Autor Bernhard Schlink, den wir zur Tagung erwarten, in einem Aufsatz sehr schön herausgearbeitet. Wir können heute mit dem Sich-opfern sehr wenig anfangen. Was in anderen Kulturen ganz anders ist, man denke nur an Selbstmordattentate. Für den Westen ist beim Opfer-werden die Frage der Verantwortung und Unschuld zentral.
Welche Konsequenzen sollte man aus der Inflation des Opferbegriffs ziehen?
Gerade eine Tagung bietet hier die Chance, Kriterien herauszuarbeiten, um die weit verbreiteten Opferdiskurse einzudämmen. Kriterien, die klären, welcher Opferstatus Entschädigung von Seiten Dritter erheben kann und welcher nicht. Diese Fragen werden sowohl den Nahen Osten betreffen als auch Vorgänge wie die Titelgebung des gerade begangenen Sudetendeutschen-Tages: „Vertreibung ist Völkermord“ – das ist eine Form von Opfervergleich, der durchaus relativierend wirkt.
Blickt man zum Nahostkonflikt, sehen sich beide Seiten als Opfer.
Wenn es zum Opfervergleich kommt, erübrigen sich alle weiteren Diskussionen. Eine Blockade tritt ein, wie wir sie heute beispielsweise im Nahen Osten beobachten können. Wir wollen mit der Tagung aber nicht klären, wer Opfer oder Täter im Nahostkonflikt ist oder welche Opferansprüche das postkoloniale Afrika gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten hat. Angesichts des inflationären Gebrauchs des Opferbegriffs wollen wir mehr Klarheit darüber gewinnen, welche Schlüsse man aus dem Opferstatus ziehen kann und welche nicht.
Suchen Sie auf der Tagung eine neue Definition des Opferbegriffs?
Das wäre ambitioniert, wenn nicht sogar überambitioniert. Etwas mehr Klarheit in den Kriterien wäre schon ein Etappenziel, das sich lohnen würde. Grundlegend sollte man sich auch fragen, ob es sinnvoll ist, das Opfer so inflationär zu gebrauchen. Das kann ja auch lähmend sein, immer nur eine solche Anspruchshaltung zu leben.
Was wäre die andere Seite der Medaille?
Das man vielleicht auf Vorbilder oder auf Gerechtigkeit im hier und jetzt stärker abhebt, vielleicht auch die Selbstverantwortung stärker einbezieht. Beispielsweise bei Entschädigungszahlungen, die bei Produkthaftungsprozessen in den USA fällig werden: Welches Menschenbild steht dahinter, wenn man immer ein Opfer ist, selbst wenn man eine Kaffeetasse umschmeißt. Hier wird doch immer jemand anderes verantwortlich gemacht. Es kann auch in weltpolitischen Konflikten sehr hemmend sein, wenn man sich an dieser Selbstbeschreibung festklammert.
Der Opferstatus wird einerseits von vielen gesucht, andererseits aber ist in der Jugendsprache das Wort Opfer zum Schimpfwort geworden.
Das ist eine ganz erstaunliche Entwicklung. Herfried Münkler hat dazu einmal angemerkt, dass es sich schlicht um eine Prognose der unmittelbaren Zukunft handeln könnte. Aber meines Wissens gibt es noch keine befriedigende Erklärung für diese Bedeutungsverschiebung.
Wieso sucht die Tagung den Kontrast zum Verlierer?
Man kann den reklamierten Opferstatus jemandem absprechen, indem man das Geschehene in eine Verlieren umdeutet. Umdeutungen wie vom Opfer in den Verlierer, vom Opfer in den Täter oder umgekehrt werden auf der Tagung eine wichtige Rolle spielen.
Welcher Frage gehen Sie nach?
Ich werde mich damit beschäftigen, inwieweit Fahrlässigkeit bei Kriminalitätsopfern zur Schuldminderung bei Tätern führen könnte. Das kontrastiere ich mit einem einfach Szenario der Risikobereitschaft im Spiel. Hier steckt die Frage dahinter, wie weit man durch diese Risikobereitschaft Selbstverantwortung für das Geschehen, das Opfersein, das Verlierersein trägt. Ich komme zu dem Ergebnis, dass Risikoverhalten einzelner nie dazu führen kann, dass dem Täter die Schuld in irgend einer Weise gemindert werden könnte. Aber: dieses risikoreiche Verhalten des Opfers kann durchaus zum Verlust des Anspruchs auf Kompensation durch Dritte führen. Diese Erkenntnis ist als Anregung gedacht, damit diese Unterscheidung auch in anderen Täter-Opfer-Debatten hilfreich sein kann.
Zum Beispiel?
Man nehme das Erinnern an Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkriegs. Im Hintergrund vieler dieser Debatten steht, ob es legitim ist, durch Beteiligung – man könnte sagen, das Risiko einen Angriffskrieg zu führen – dem Einzelnen Mitschuld zu geben und ihm dadurch den Opferstatus abzuschreiben. Was ich für falsch halte. Ganz anders verhält es sich dagegen in der Beurteilung von Kompensationsansprüchen, die einige aus dem Opferstatus ableiten wollen. Die Frage nach Opferstatus und Kompensation ist heute sehr schwer, da beides miteinander verschwimmt. Ich versuche nun, Kriterien zu entwickeln, um hier klarer differenzieren zu können.
Auch Hans Magnus Enzensberger wird am Samstag im Einstein Forum über den Opferbegriff sprechen.
Das dürfte sehr kontrovers werden. Sein aufsehenerregender Essay zum „Radikalen Verlierer“, versucht im weitesten Sinne den radikalen Islamismus und das Phänomen der Selbstmordattentäter zu ergründen. Seine Figur fühlt sich in der Auseinandersetzung mit dem Westen derart in die Enge getrieben, dass es eine nahezu pathologische Reaktion gibt. Sein einziges Heil sieht dieser „Verlierer“ dann nur noch darin, seinen einzigen Moment der Macht, den Tod anderer und seiner selbst herbeizuführen. Der Beitrag ist kulturgeschichtlich eingebettet in eine Abhandlung zur islamisch-arabischen Welt, das hat viel Kritik hervorgebracht.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Dr. Martin Schaad ist stellvertretender Direktor des Einstein Forums. Er hat Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft an der Universität Stirling studiert und in Oxford promoviert.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: