WEIMERS Woche: Bild Dir Deine Meinung
Wolfram Weimer hat gelesen – und seltene Selbstkritik gefunden
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In dieser Woche war ich in der Bibliothek. Nach der Buchmesse, wenn die Tage kälter werden, gibt es viel zu Lesen. Rüdiger Safranskis großartiges Romantikbuch ist souverän, Joschkas Fischers „Rot-Grüne Jahre“ dagegen eitel. Julia Francks hoch gepriesene „Mittagsfrau“ gefällt mir weniger als Martin Mosebachs „Der Mond und das Mädchen“. Empfehlen kann ich Hubertus Knabes „Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur“, detailreich, aufklärerisch und entlarvend – auch für einige Potsdamer Zeit-Genossen.
Und dann fällt mir noch „Der große Selbstbetrug“ in die Hand. Der Autor ist Kollege und künftiger Neu-Potsdamer: Kai Diekmann, Chefredakteur der Bildzeitung. Auf schwungvollen 255 Seiten rechnet er mit den Gutmenschen und Alt-Achtundsechzigern ab. Das Buch ist im Duktus eines leidenschaftlichen „J“accuse“ geschrieben. Manche wird der Bild-Chef damit empören, anderen wird er aus der Seele sprechen.
Auf Seite 57 schreibt er über Potsdam und den Fall Ermyas M., der keiner war. Und er schreibt Erstaunliches. Nämlich Selbstkritik: „Die bittere Erfahrung von Sebnitz hinderte die geschätzten Kollegen – aber leider auch Bild – nicht daran, auch im Fall des Deutschäthiopiers wieder einmal in Medienhysterie zu verfallen.“ Alle Achtung. Das ist ein „Je m“accuse“, wie man es von Journalisten selten hört. Vielleicht nimmt sich der Ex-Regierungsprecher Uwe-Karsten Heye daran ein Vorbild, denn er hatte damals, kurz vor der WM das fatale Wort von den „No-Go-Areas“ in die weite Welt gebracht und dem Ansehen Brandenburgs damit schwer geschadet.
Sebnitz, Potsdam und wohl auch Mügeln sind rückblickend peinliche Beispiele für faule Betroffenheitsreflexe und eine ungerechte Stigmatisierung Ostdeutschlands. Es gibt einen blinden, unfairen, „ritualisierten Ablauf, den jeder – auch nur vermeintlich – rechtsradikale Vorfall in Gang setzt: Journalisten, Fotografen und Übertragungswagen überrollen den jeweils inkriminierten Ort und stellen die Bewohner unter Generalverdacht.“ Schreibt Kai Dieckmann selbstkritisch. Er hat Recht. Potsdam ist nicht fremdenfeindlich.
Wolfram Weimer schreibt an dieser Stelle regelmäßig für die PNN. Unser Autor ist Chefredakteur des Magazins „Cicero“ und lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Wolfram Weimer
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