Landeshauptstadt: Bist Du Deutschland oder „Vaterlandsverräter“?
Provokante Anti-Kriegsaktion „Legende vom toten Soldaten“ mit Sirenengeheul, Bomber- Flug und Begräbnis
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Innenstadt - Beängstigend, nervend, verwirrend, störend. Das penetrante Geräusch des Luftschutzalarms am Samstagabend in der Innenstadt sorgte für Emotionen – ablehnende wie auch zustimmende. Genau das wollten die Organisatoren vom „Verein für die unliterarische Verwendung der Literatur und außergewöhnliche Brechtvorhaben“ hervorrufen. Die Antikriegsaktion zum 61. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus sollte provozieren, die Leute beschäftigen.
Mit Bertolt Brechts Gedicht „Die Legende vom toten Soldaten“ als Grundlage begann das Spektakel bereits am Sonnabendmittag vor dem Berliner Reichstag, an dem zwei sowjetische Panzerattrappen den toten deutschen Soldaten in Gewahrsam nahmen und nach Potsdam eskortierten. Die brandenburgische Landeshauptstadt war am 14. April 1945 Ziel des letzten großen Bombenangriffs auf eine deutsche Stadt. Der durchdringende Alarm, der zeitgleich über die Sonderfrequenz 95,2 MhZ gesendet wurde, schallte ab 20 Uhr durch Potsdams Straßen. Sehr zum Unmut der Anwohner sowie der Cafégäste am Nauener Tor. Ein verärgerter Anrainer kappte denn auch die Stromversorgung – eine Aktion, die in den Restaurants mit Applaus bedacht wurde. Doch die Polizei setzte das Recht der Organisatoren durch, wenige Minuten später erschallte der Luftschutz-Alarm mit unverminderter Lautstärke wieder.
Dabei war es noch wenige Tage zuvor nicht sicher, in welchem Ausmaß die Kunstinstallation über die Bühne gehen sollte. Bereits im vergangenen Jahr, zum 60. Jahrestag, wollte der Verein die Aktion durchführen, jedoch verhinderten Behörden das Spektakel wegen der möglichen Beeinträchtigung der offiziellen Feierlichkeiten. Die etwa 200 000 Euro, die die Aktion kostete, waren allein durch Spenden zusammengekommen. „Deshalb unternahmen wir in diesem Jahr einen neuen Versuch“, erklärte Stefan Eggerdinger, Pressesprecher des Aktionsbüros. „Die Potsdamer Behörden veranlassten daraufhin erneut Auflagen, dass wir den Alarm nur 15 Minuten und nur mit einer Lautstärke von 65 Dezibel, also Gesprächslautstärke, ausstrahlen dürfen“, so Eggerdinger weiter. Erst am vergangenen Freitag entschied das Verwaltungsgericht Potsdam zugunsten des Vereins. Wohl wegen der akustischen Penetration fiel den meisten Unbeteiligten nicht der Bomber am Himmel auf, den das Aktionsbüro extra für eine halbe Stunde über der Innenstadt hatte kreisen lassen. „Was tust Du, wenn die Bomben wieder fallen“, fragten die Organisatoren provokant auf einem Transparent am Nauener Tor. „Wirst Du zum ,Vaterlandsverräter“ oder bist Du dann Deutschland?“, setzte Eggerdinger mit dem zitierten Titel der bekannten Marketingkampagne noch eins drauf.
Höhepunkt der zweitägigen Veranstaltung war das gestrige Begräbnis des toten Soldaten am Glockenspiel auf dem Plantagenplatz, wo einst die Garnisonkirche stand. Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei.PDS, Dagmar Enkelmann, wandte sich in ihrer Rede direkt an die Veteranen-Vertreter der Alliierten, den US-Amerikaner Joe Lipsius, den Franzosen Pierre Pranchère, die Engländerin Rita Stanleigh und den Russen Aleksej A. Piskunow: „Wir stehen tief in ihrer Schuld, nicht die Deutschen selbst haben sich vom Faschismus befreit. Es waren die Soldaten der Anti-Hitler-Koalition.“
Anschließend wurde der tote deutsche Soldat – eigentlich ein quicklebendiges Mitglied des Aktionsbüros – in einem zuvor ausgehobenen Grab „beerdigt“. „Wir haben dort unten Frischluftzufuhr und einen Notausgang“, sicherte Stefan Eggerdinger zu. Gemäß der geplanten Dramaturgie erklärten die Veteranen anschließend: „Buddelt ihn wieder aus, wir nehmen ihn mit. Aber folgt uns nicht.“ Just in diesem Moment begannen die Glocken zu erklingen: „Üb“ immer Treu und Redlichkeit, bis an Dein kühles Grab“
Kai Grimmer
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