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Sport: Bitte mehr Details!

Als Co-Trainer des Handball-Nationalteams analysiert der Potsdamer Alexander Haase die WM-Taktik der Gegner

Stand:

Auf die Idee muss erst mal einer kommen. Im Auftaktspiel der deutschen Handball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar gegen Polen sind 55 Minuten absolviert, da stellt sich eine äußerst knifflige Frage. Wer wagt es, in dieser entscheidenden Phase – Zwischenstand: 25:25 – den nächsten Siebenmeter zu werfen? Uwe Gensheimer hat gerade einen Strafwurf und eine weitere Großchance vergeben, der sonst so sichere Kapitän zeigt Nerven und scheidet als Kandidat logischerweise aus. Weil sich unter Gensheimers Kollegen ebenfalls kein Freiwilliger findet, steht plötzlich Johannes Sellin von der Ersatzbank auf und schreitet zur Tat. Sellin hat zu diesem Zeitpunkt noch keine Sekunde auf dem Feld gestanden. Kann doch im Grunde nur schiefgehen!?

Wessen glorreicher Einfall das war? „Ich hatte damit nichts zu tun“, sagt Bundestrainer Dagur Sigurdsson später. Dass der Isländer dabei über beide Ohren grinst, hängt in erster Linie damit zusammen, dass Sellin den Siebenmeter verwandelt und sein Team das erste Spiel gegen Polen am Ende doch irgendwie siegreich gestaltet hat (29:26). „War die Idee meines Co-Trainers“, ergänzt Sigurdsson und drückt kurz das linke Auge zu. „Guter Mann!“

Der Gelobte heißt Alexander Haase, ist in Potsdam geboren und aufgewachsen und im Hauptberuf als Lehrer an der Sportschule am Luftschiffhafen tätig. Im Nebenberuf assistiert Haase dem neuen Bundestrainer nun seit etwas mehr als zwei Monaten, und die Szene aus dem Eröffnungsspiel illustriert den Aufgabenbereich des 38-Jährigen vortrefflich: Haase ist bei der Nationalmannschaft für die kleinen Entscheidungen verantwortlich, die im Handball bisweilen Großes bewirken können. Wie im Fall Sellin. Seine Kernkompetenz liegt in der Videoanalyse des Gegners. Wo gibt es Schwachstellen? Welcher Akteur fällt möglicherweise vom Niveau ab? Worauf gilt es besonders zu achten? Und, elementar wichtig für das Torhütergespann, wie sehen die Wurfbilder der gegnerischen Schützen aus? „Handball ist sehr taktisch geprägt, mit hunderttausend Details“, sagt Haase, „das hat mir schon immer gefallen, deshalb liebe ich diesen Sport.“

Bei den WM-Spielen in Katar nimmt er zwar nicht immer neben Sigurdsson auf der Bank Platz, aber das ist ganz offensichtlich überhaupt kein Problem. Neben Haase hat der Bundestrainer auch den Schwaben Axel Kromer zum Co-Trainer befördert, der sich seine Meriten zuvor als Assistent des für die deutschen Junioren zuständigen Trainers Markus Baur verdient hat. Mal sitzt Haase mit einem Notizblock auf der Tribüne, mal Kromer. „Wir wechseln uns aus einem einfachen Grund ab“, sagt der Potsdamer, „weil man so einen wesentlich besseren und objektiveren Blick auf das Geschehen hat als auf der Bank, wo es ja doch immer ziemlich emotional zugeht.“

Nach Siegen gegen Russland und Argentinien sowie dem Unentschieden gegen Weltmeister Dänemark hat sich die Nationalmannschaft inzwischen für das Achtelfinale qualifiziert. Um sich bestmöglich auf die nächste Aufgabe einstellen zu können, bedient sich das deutsche Trainerteam zeitgemäßer Technik: Neben der turnusmäßigen Mannschaftsbesprechung erhalten die Spieler täglich einen USB-Stick, der sie mit ganz spezifischen Informationen zu ihren Gegenspielern versorgt. Wann sie sich die Zusammenschnitte ansehen – nach dem Frühstück, vor der Mittagspause oder abends vor der Bettruhe – „das ist jedem selbst überlassen“, sagt Haase. „Wir wollen da niemandem Vorschriften machen: Einer ist morgens aufnahmefähiger, der andere am Abend.“

So oder so: Das Trainergespann füttert das Computerprogramm namens „Sideline“ fortwährend mit neuen Informationen und kann mit einem einfachen Mausklick überprüfen, ob die Spieler auch brav ihre taktischen Hausaufgaben erfüllt haben. „Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt Haase. Wir, das heißt in diesem Fall: Haase und Sigurdsson. Den Bundes- und seinen Co-Trainer verbindet nämlich eine gemeinsame Vorgeschichte. „Ich kenne Alex sehr gut und weiß, dass er die Dinge sieht, die wir brauchen, um erfolgreich zu sein“, sagte Sigurdsson, nachdem er Haase im November vergangenen Jahres zu seinem Assistenten ernannt hatte. Von 2009 bis 2013 bildeten die beiden bereits ein Duo bei Handball-Bundesligist Füchse Berlin. Dabei hat Alexander Haase offenbar nachhaltig Eindruck hinterlassen. „Sonst hätte ich diese Chance wahrscheinlich nie bekommen.“ In seiner Funktion als Mitglied des Trainerrates am Leistungsstützpunkt des Deutschen Handball-Bundes (DHB) in Berlin wirkte Haase zudem am neuen Sichtungskonzept des Verbands mit.

Dabei wollte er sich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit den Füchsen Berlin vor eineinhalb Jahren eigentlich ein wenig zurückziehen und wieder mehr Zeit mit der Familie verbringen – wurde aber Sportlicher Leiter beim Drittligisten VfL Potsdam. Was ihn letztlich dazu gebracht hat, den Rückzugsentschluss zu revidieren? Alex Haase überlegt einen Augenblick und stellt dann die Gegenfrage: „Kann man als junger Trainer so ein Angebot wie das vom DHB ablehnen?“ Auch darauf hätte erst mal einer kommen müssen.

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