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Landeshauptstadt: Blind bei der Arbeit

Sie erwirtschaften einen Umsatz von 900 000 Euro im Jahr – Ein Besuch in den Werkstätten der Diakonie Potsdam

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Wenn Michael Göbel in der Werkstatt arbeitet, kommen Besucher aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der 52-Jährige bedient seine kleine Schneidemaschine mit Lippen, Mund und Kinn. „Das, was da ist, wird genutzt“, sagt er. Göbel ist körperbehindert und kann nicht mit seinen Händen arbeiten. Deshalb beugt er geschickt den Kopf, schiebt mit der Mundpartie ein Papier in die Maschine und bedient einen Hebel, um die Briefmarke sauber herauszuschneiden. Gestempelte Marken aus Briefen zu schneiden, zu sortieren und an Händler und Sammler zu verkaufen, ist eine der Dienstleistungen, die die Potsdamer Diakonie-Werkstätten gGmbH anbietet.

Zu deren Kunden gehören nach Unternehmensangaben namhafte Firmen wie Siemens und eBay. Für die Brandenburger Landesregierung werden Akten vernichtet, für andere Abnehmer Bürsten und Metallerzeugnisse hergestellt. Kirchenbücher wurden digitalisiert, dafür gab es Lob aus dem Vatikan, wie Geschäftsführer Rüdiger van Leeuwen erzählt. Die Einrichtung ist eine von 28 anerkannten Werkstätten für Behinderte, die es dem Sozialministerium zufolge im Land gibt. Laut Unternehmen arbeiten in den 13 Werkstätten rund 46 nicht behinderte und 325 behinderte Menschen. Sie sorgen van Leeuwen zufolge für einen Jahresumsatz von etwa 900 000 Euro. „Ich freue mich über jeden Behinderten auf dem freien Markt“, sagt der Geschäftsführer. Allerdings liege die berufliche Zukunft von Menschen mit schweren Behinderungen meist ausschließlich in den Werkstätten. „Unsere Preise sind nicht niedriger. Wir dürfen ja nicht dumpen“, betont van Leeuwen. Kunden würden jedoch dadurch begünstigt, dass sie nur sieben Prozent Mehrwertsteuer bezahlen müssten.

In Potsdam werden aber nicht nur Produkte gefertigt, sondern auch erfunden. 1997 erhielten die Werkstätten ein europäisches Patent auf ein „Rollstuhlreifenreinigungsgerät“, das sogar einen Designpreis einheimste. Das Gerät wird flach in den Boden eingelassen, rotierende Bürsten kratzen den Dreck aus den Reifen. „Wir haben aber nur 100 Geräte meist für das Ausland produziert“, sagt van Leeuwen. Die Pläne könnten aber jederzeit aus der Schublade geholt werden. Ein neues Produkt, das hergestellt wird, heißt „Thermofee“: ein Gerät zur Erwärmung von kleinen Mengen Wasser, nützlich etwa beim Campen.

Damit hat Michael Hänel derzeit nichts zu tun. Der 31-Jährige steht an einer dunkelgrünen Drehbank, Baujahr 1976, und geht seiner Tätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes blind nach. Hänel erzählt, er sei ohne Augenlicht geboren worden. „Ich lasse mir meine Arbeit erklären. Ich probiere sie ein paar Mal, dann geht sie mir in Fleisch und Blut über.“ Michael Hänel, der in seiner Freizeit Keyboard spielt, trägt Blaumann und Schutzbrille, seine Arbeit unterbricht er kaum einmal. In den Potsdamer Werkstätten herrscht eine arbeitsame Atmosphäre.

Die Wirtschaftskrise macht dem Unternehmen noch nicht zu schaffen, wie ihr Geschäftsführer sagt. Stattdessen sagt van Leeuwen: „Wir sind auf Wachstum aus.“ Der Geschäftsführer will mit seinen Werkstätten für behinderte Menschen, die Anfang 1992 als gemeinnützige GmbH durch den Verein Oberlinhaus und die Hoffbauer-Stiftung gegründet wurden, künftig in Firmen einsteigen, deren Inhaber keine Nachfolger finden. „Wir werden aber keine Heuschrecken sein.“ Leticia Witte

Leticia Witte

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