
© I. Höfgen
Potsdamer Talente: Blindes Vertrauen
Die zehnjährige Shirley Sue Giese kann fast nichts sehen. Beim Dressurreiten ist das für die Werderanerin aber kein Hindernis. Sie zählt zu den größten Talenten in Deutschland, weshalb ihre Trainerin bereits an das Jahr 2020 denkt.
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„Schön gerade bleiben!“ Ein Ruck geht durch den Körper von Shirley Sue Giese, als das Kommando ihrer Trainerin über das Dressurfeld schallt. „Genau, schieb ihn schön vor dir her“, ruft Gundula Lüdtke dann schon zufriedener. Der Tonfall lässt auch auf dem Gesicht der Reiterin ein zurückhaltendes Lächeln erscheinen. Sie liebt das Gefühl, wenn eine Aufgabe gut läuft. Und auf ihr Gefühl kann sich die Dressurreiterin des Brandenburgischen Präventions- und Rehabilitationssportvereins (BPRSV) eigentlich immer verlassen. Das muss sie auch, denn seit ihrer Geburt ist Shirley Sue Giese fast blind.
„Ich habe auf dem einen Auge noch zwei Prozent und auf dem anderen drei Prozent Sehkraft“, erzählt die Zehnjährige, die an Leberscher Amaurose leidet, einer genetisch bedingten Beeinträchtigung der Sehkraft. Was sie jedoch nicht davon abhält, beinahe täglich auf dem Pferderücken zu sitzen. Auf dem Reiterhof ihrer Eltern saß sie eigentlich schon auf dem Pferd, bevor sie laufen konnte. Doch während sie dort das Gefühl der Geschwindigkeit genießt, ist beim Training in der Rollireitschule Radensleben Präzision gefragt. Seit 2011 trainiert Shirley am dortigen Landesstützpunkt für „Reiten mit Handicap“ Dressurreiten. Ein- bis dreimal in der Woche verfeinert die Werderanerin mit ihrem Pferd Harun die verschiedenen Lektionen, mit denen sie sich bei Wettkämpfen gegen die zumeist ältere Konkurrenz misst.
"Unglaublich gutes Bewegungs- und Rhythmusgefühl"
Denn mit erst zehn Jahren tritt Shirley bereits in der Wettkampfklasse A an. „Bisher war sie überall die jüngste Teilnehmerin“, erzählt Gundula Lüdtke. Als Trainerin am Radenslebener Landesstützpunkt betreut sie vorrangig querschnittsgelähmte Leistungssportler, bietet jedoch auch eine Bewegungstherapie für Menschen mit Leicht- und Schwerstbehinderungen. „Wer im Dressursport weit rauf will, muss allerdings auch früh anfangen“, meint Lüdtke. Dass ihre verminderte Sehkraft dabei kein Hindernis ist, zeigt Shirley Giese regelmäßig im Wettkampf gegen Sportler ohne Beeinträchtigungen, bei denen sie sehr gute Platzierungen erreicht. „Sie hat ein unglaublich gutes Bewegungs- und Rhythmusgefühl", so Gundula Lüdtke.
Das Dressurreiten ist für Shirley gleichermaßen Spaß und harte Arbeit. Eine Arbeit, die sich spätestens 2020 auszahlen soll. Denn dann will sie zu den Paralympischen Spielen in Tokio. „Sie darf bereits mit 14 Jahren international starten, aber erst mit 16 Jahren bei den Paralympics“, erklärt Lüdtke. 2020 wird Shirley genau 16 Jahre alt. Wie weit ihre Trainerin jetzt schon vorausdenkt, zeigt, wie viel Potenzial in der noch jungen Dressurreiterin steckt.
Ihr treues Pferd Harun kennt sie "in- und auswendig"
Bei Wettkämpfen muss wie auch beim Training die Harmonie zwischen Trainerin, Reiterin und Pferd stimmen. „Wir müssen eine Einheit sein, sonst funktioniert das nicht“, so Lüdtke. Die Kommandos, die ihre Trainerin ihr zuruft, dienen ihr zur Orientierung, obwohl sie sich dabei noch mehr auf ihr Pferd Harun verlassen muss. Vier bis acht Jahre dauert die Ausbildung zu einem Parapferd, und nicht jedes eignet sich für die Aufgabe, die Augen, Ohren und Beine seines Reiters zu sein. „Ich muss Harun vertrauen, dann vertraut er mir auch. Ich kenne ihn einfach in- und auswendig“, erklärt Shirley die besondere Verbindung zwischen den beiden. Auf jedem Dressurfeld gehe Harun ganz von selbst zuerst eine Runde, danach wisse sie ziemlich genau, wie das Feld aussieht und wo sie sich befindet, erklärt sie.
Wie genau Shirley den zwölfjährigen Hannoveraner durch die verschiedenen Lektionen führt, die sie meist bereits nach einmaligem Hören im Kopf hat, kann sie nicht in Worte fassen. Das sei einfach zu schwer zu erklären. Am Ende läuft bei Shirley Sue Giese jedoch alles auf eins hinaus: Das Gefühl der Einigkeit zwischen ihr und ihrem Pferd.
Chantal Willers
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