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ZUR PERSON: „Briefe sind eine Form des Telefonierens“

Die Französische Revolution hautnah erleben und darüber schreiben: Hanno Schmitt hat den umfangreichen Briefwechsel des Aufklärers Joachim Heinrich Campe vollständig ediert

Stand:

Herr Schmitt, was bewegte den Theologen, Aufklärer, Schriftsteller, Sprachforscher und Gründer eines Schulbuchverlags, Joachim Heinrich Campe, im Juni 1789 nach Paris zu reisen, um die Wirren der dortigen Revolution hautnah mitzuerleben?

Die Französische Revolution begann ja nicht erst im Jahr 1789. Die Entwicklung, die dorthin geführt hat, wurde von Campe als einem der führenden Aufklärer in Deutschland sehr genau beobachtet. Der erkannte sehr genau, was in Paris passierte.

Aber warum dieses Bedürfnis, selbst vor Ort sein zu müssen?

Campe wollte das Geschehen nicht nur in Augenschein nehmen und aus nächster Nähe erleben, er wollte es auch verstehen.

Was Campe im revolutionären Paris erlebte, hat er schon kurz nach seiner Reise in „Briefe aus Paris“ veröffentlicht.

Ja, und diese Briefe aus Paris sind eines der absolut frühesten Zeugnisse über die Französische Revolution in Deutschland auf schriftstellerischem Niveau. Campe schrieb mit lockerer Feder und in den Briefen finden sich oft Szenen, in denen spürbar wird, wie ihn damals die Erlebnisse vor Ort ergriffen haben. Campe konnte beispielsweise vor Aufregung gar nicht schlafen.

Diese „Briefe aus Paris“ haben Campe auch heftige Kritik eingebracht.

Campe zeigt in diesen Briefen ganz deutlich seine revolutionsfreundliche Position. Das war in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt natürlich nicht unumstritten.

Sie haben sich sehr intensiv mit dem Briefwechsel Campes beschäftigt und jetzt den zweiten Band „Briefe von und an Joachim Heinrich Campe“ veröffentlicht. Was war der Anlass für diese jahrelange Auseinandersetzung?

Meine Promotion, die ich in den 70er Jahren geschrieben habe, handelt von der ersten modernen Schulreform im aufgeklärten Absolutismus in Braunschweig/Wolfenbüttel. Campe wurde damals vom Herzog von Braunschweig gebeten, diese Schulreform durchzuführen und galt schon früh als Gallionsfigur dieser philantropischen Reformbewegung. Das habe ich sehr genau anhand von Quellen in den Archiven untersucht. Dabei habe ich eine Briefsammlung von Campe entdeckt, die in der Wissenschaft schon im 19. Jahrhundert benutzt wurde, aber noch nicht ediert war. Das habe ich als Forschungsprojekt vorgeschlagen und auch sofort Unterstützung erhalten. Das war 1978.

Was ist das Interessante für einen Wissenschaftler, dass er sich jahrelang mit einem solchen Briefwechsel beschäftigt?

Wie schon gesagt, Campe gilt als einer der führenden Aufklärer in Deutschland im 18. Jahrhundert. In der Beschäftigung mit einem solchen Briefwechsel erkennt man Netzwerke, die Beziehungen, sogar die überregionalen Abhängigkeiten. Und durch alles, was man im Archiv an Originalen neu erschließt, ist man als Wissenschaftler sehr viel näher am historischen Prozess dran, als wenn man eine spätere Abhandlung über diese Zeit liest. Ohne intensive Quellenarbeit kommt niemand in der Forschung weiter.

Wie sieht diese Quellenarbeit aus?

Die ist unwahrscheinlich aufwendig. Allein in dem Personenregister haben wir 1400 Namen verzeichnet, die in den Briefen erwähnt sind. Die müssen alle recherchiert werden. Aber das war der Kosmos, der sich für mich geöffnet hat. Denn so habe ich die Zeit mit ihren Menschen und ihrer Vielfalt kennen gelernt.

Ein Kosmos, der bestimmt auch persönliche Seiten der Briefschreiber zeigt?

Ja, es gibt unterschiedliche Formen von Briefen. Man erkennt schon an den Anreden das Verhältnis der Briefschreiber. Sind diese schon befreundet oder handelt es sich erst um den ersten oder zweiten Brief? Sie tauschen sich über bestimmte Begebenheiten aus, berichten über die gerade aktuellen Ereignisse. Wenn man so will, eine dokumentierte Form des Telefonierens. Da wird auch über Banales und Alltägliches geschrieben. Aber in der Situation, als die Briefe geschrieben wurden, hatten die Themen unmittelbar mit diesen Menschen zu tun. Ein in Briefform erhaltener Kommunikationsprozess. Und diese intensive Auseinandersetzung ist einfach notwendig, um den historischen Prozess zu begreifen.

Kann ein solcher, ausführlich edierter Briefwechsel auch als eine Art Autobiografie gelesen werden?

Das kann man natürlich. Und es gibt Aspekte, die man auf keiner anderen Textebene findet. Das ist eigenhändig und man ist viel näher an der Person dran. Wobei man dabei beachten muss, wie viel überliefert ist, ob eine solche Überlieferung mittels Briefen nicht bruchstückhaft ist. Im ersten Band habe ich genau rekonstruiert, dass Briefe von Campe im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind. Ich konnte genau feststellen, wo diese Briefe eingelagert waren und verloren sind.

Der erste Band mit Campes Briefwechsel erschien 1996, der zweite erst in diesem Jahr. Warum hat die Arbeit so lange gedauert?

Der zweite Band war im Grunde schon seit knapp fünf Jahren fast fertig. Aber die Register mussten noch ergänzt werden. Ich habe an der Universität gelehrt, war ab 2001 vier Jahre lang Dekan, habe noch drei andere Forschungsprojekte geleitet und berate das Rochow-Museum in Reckhan. In den vergangenen anderthalb Jahren vor der Drucklegung habe ich jede Woche etwa zwei Tage an dem zweiten Band gearbeitet. Aber ohne die Unterstützung meiner beiden Mit herausgeber Anke Lindemann-Stark und Christophe Losfeld hätte ich dieses Projekt nicht bewältigt.

In den beiden Bänden haben Sie fast 1000 Briefe von und an über 270 Persönlichkeiten ediert. Ist das für die damalige Zeit eine normale oder eine ungewöhnliche Anzahl?

Das ist gar nicht viel. Es gibt Nachlässe mit 20 000 Briefen. Aber der Campe-Briefwechsel ist einer der wenigen, der in den letzten Jahren vollständig ediert worden ist. Ich bin mir sicher, dass diese Arbeit auch noch in 100 Jahren Bestand haben wird. Trotzdem ist der überlieferte Campe-Briefwechsel reduziert. Denn Campe hat viel mehr geschrieben, aber zu Lebzeiten schon viel aussortiert.

Sie haben auch aussortiert. Die bekannten „Briefe aus Paris“ sind in keinem der beiden Bände berücksichtigt. Warum?

Weil die „Briefe aus Paris“ eine literarische Form haben. Wie in einem Briefroman wird hier der Brief genutzt, um etwas zu transportieren. Campe hatte diese Briefe mit dem Vorsatz geschrieben, sie auch zu publizieren. Darum haben wir sie nicht berücksichtigt. Außerdem liegen die „Briefe aus Paris“ in zwei modernen Editionen vor.

Seit 1978 beschäftigen Sie sich mit Campes Briefwechsel. Würden Sie die beiden Bände als Ihr Lebenswerk bezeichnen?

Lebenswerk ist immer so ein großes Wort. Ich würde von einem meiner Hauptwerke sprechen. Derzeit beschäftige ich mich intensiv mit der Korrespondenz des preußischen Aufklärers Friedrich Eberhard von Rochow. Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt hat im Februar begonnen und wir haben in den wenigen Monaten unendlich viel Quellenmaterial gefunden. Das wird mich noch einige Jahre beschäftigen.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Bd. 2: Briefe von 1789-1814. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Hanno Schmitt, Anke Lindemann-Stark und Christophe Losfeld, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2007, 840 Seiten, 118 Euro.

Hanno Schmitt, geboren am 27. Oktober 1942 in Marburg an der Lahn, ist Erziehungswissenschaftler, Historiker und Buchautor. Er lebt heute in Potsdam. Schmitt studierte unter anderem Erziehungswissenschaften, Geschichte und Philosophie in Marburg und München. Er promovierte 1978 und habilitierte 1989 in den Erziehungswissenschaften. Von 1993 bis Anfang 2008 lehrte Hanno Schmitt an der Universität Potsdam. Von 1999 bis 2003 war er an dieser Hochschule Dekan der Humanwissenschaftlichen Fakultät. Neben seiner intensiven Forschungsarbeit zum Briefwechsel von Joachim Friedrich Campe hat sich der Historiker Hanno Schmitt in den vergangenen Jahren dem preußischen Aufklärer Friedrich Eberhard von Rochow zugewandt. D.B.

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