Landeshauptstadt: Buchstaben im Traum
Ankämpfen gegen den Analphabetismus: Lesen und Schreiben lernen an der Volkshochschule
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Ankämpfen gegen den Analphabetismus: Lesen und Schreiben lernen an der Volkshochschule Von Guido Berg Das kleine Zimmer in der Volkshochschule hat keine Tafel. Lehrer Thomas Waldstein schreibt den Satz auf ein großes Blatt Papier, dass von einem Aufsteller für alle sichtbar hochgehalten wird. „Der Tee ist hei“ Thomas Waldstein will wissen, welcher Buchstabe noch fehlt. Eine Schülerin, geboren 1962, schlägt ein „s“ vor. Der Lehrer klärt auf, nach einem „ei“ kommt ein „Buckel-S“, ein „esszett“, und will dann wissen: „Wo ist so ein Buchstabe noch drin?“ Der nun Gefragte ist ein schlanker und freundlicher Mann mit Oberlippenbart. In Kürze feiert er seinen 40. Geburtstag. Er weiß kein Wort mit Buckel-S. „Wo wohnen Sie?“ Der Mann sagt den Namen seiner Straße. „Da war gerade ein Wort mit Buckel-S dabei“, ermuntert ihn Thomas Waldstein. Der Mann lacht und fährt sich mit der Hand verlegen über den Kopf. „Wir haben keine Schuld daran, wir waren Kinder“, erklärt die Frau. Ihre Mutter arbeitete als Melkerin, ihr Vater als Melker. Beide mussten „oft um drei Uhr aufstehen“. Von den zehn Kindern, die ihre Mutter gebar, „leben sechs“. Ihre Eltern sind oft umgezogen, „da kommt man in der Schule nicht mehr hinterher“. Die „ganz harte Kämpferin“, wie sie Lehrer Waldstein beschreibt, ist keine Analphabetin mehr. Seit 1999 lernt sie an der Potsdamer Volkshochschule. „Das Lesen geht schon, aber das verfluchte Schreiben “ Manchmal kämpft sie so sehr mit dem ABC, „da träume ich die ganze Nacht von Buchstaben“. Das Schlimmste ist, sagt sie, wenn sie einem auf dem Amt einen Zettel in die Hand drücken. „Hier, füllen sie “mal aus.“ Sie ist zu solchen Terminen immer mit ihrem Mann hingegangen, „das war mein Glück.“ Thomas Waldstein berichtet von weiteren Bewältigungsstrategien: „Ich habe meine Brille nicht dabei“ ist eine, die häufig verwendet wird. Der Mann mit dem Oberlippenbart kommt ebenfalls aus einer kinderreichen Familie. Er denkt, seine sieben Geschwister „können das auch nicht“, das Lesen und Schreiben. Der Vater war bei der Stadt-, die Mutter bei der Gebäudereinigung. Als Kinder schliefen sie zu viert in einem Zimmer. Er sagt, er habe viel im Haushalt helfen müssen. Nach der 8.Klasse begann er eine Betonwerkerlehre in Potsdam. „Ich habe gut gearbeitet“, da haben die im Arbeitskollektiv „ein Auge zugedrückt“. „Zu DDR-Zeiten brauchtest du nicht lesen können“, bestätigt die gelernte Tierpflegerin. „Ich habe immer gearbeitet“, auch nach der Wende, zuletzt an einer Speiseeismaschine: „Keiner hat was gemerkt.“ Seit einigen Jahren ist sie nun doch arbeitslos. Sie findet nichts. Einmal ist sie vom Arbeitsamt aufgefordert worden, an einem Bewerbungstraining teilzunehmen. Ihr blieb nichts weiter übrig, als dem Dozenten zu beichten, dass sie mit einem Schreibprogramm nicht nur deshalb nichts anfangen kann, weil sie keine Ahnung von Computern hat. Der Lehrer hat ihr Geheimnis für sich behalten. Hofft sie jedenfalls. Ob ihre Geschwister lesen und schreiben können weiß sie nicht. Denn ihre Geschwister wissen auch nicht, dass sie es nicht kann. Nicht mal ihre großen Kinder wissen davon – bis auf ihre zweitälteste Tochter. Die ist jetzt 18. Als sie in der sechsten Klasse war, hat sie sich ihr offenbart: „Jetzt will ich dir mal was sagen, deine Mama kann das nicht“. Zuerst hat die Tochter geguckt, aber dann hat sie gesagt, „ich pass“ auf die Kleine auf“, die jüngste Tochter, damit die Mama zum Kurs gehen kann. „Sie passt heute auch auf sie auf“, sagt die Frau. Neben den Schwierigkeiten im Alltag, insbesondere bei der Berufsfindung; neben dem Wunsch, den Führerschein zu machen, um selbst vom Dorf in die Stadt zu kommen, wann immer sie es möchte; neben dem Verhältnis zur großen Tochter, in der sich die Mutter in der Pflicht sieht, gegen die Hypothek ihrer unzulänglichen Schulzeit anzukämpfen, neben all dem gab es auch einen äußeren Anstoß, in ihrem Leben doch noch hinter das Geheimnis der Buchstaben zu kommen: Es war der Fernseh-Werbespot „Schreib dich nicht ab! Lern lesen und schreiben!“ Sie hat daraufhin bei der genannten Kontaktnummer angerufen – „den Namen sag ich nicht, ich will nur wissen, wo es so etwas gibt“ – und daraufhin wurde sie auf die Volkshochschule verwiesen. Ihn, den bald 40-Jährigen, hat seine Frau zur Teilnahme am Kurs zur Überwindung des Analphabetismus „gedrängelt“. Der Grund: „Weil sie mir nicht mehr immer alles vorlesen will.“ Etwa vier Millionen Bundesbürger können nicht ausreichend lesen und schreiben, im Land Brandenburg sind es schätzungsweise 100000. Sie, die Kämpferin, erfährt von diesen Zahlen und ist überrascht: „Ich hab“ immer gedacht, ich bin alleine“
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