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WEIMERS Woche: Da lacht der vordere Osten

Wolfram Weimer über türkische Ossi-Wessiwitze

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In dieser Woche war ich in Istanbul. Asien und Europa in einer Stadt. Auf der breiten Fußgängerpromenade der Galata-Brücke – angeblich die schönste der Welt – beobachte ich im Vorbeifahren die vielen Angler und die wenigen Liebespaare und frage mich, warum wir eigentlich in Potsdam auf der Glienicker Brücke die Fußgänger mit winzigen Gehsteigen so vergraulen.

Ich blicke also aus dem Fenster meines Taxis über das glitzernde Wasser des Bosporus nach Asien hinüber, als plötzlich der Fahrer fragt: „Wissen Sie eigentlich, warum die Sonne dort im Osten aufgeht?“ „Sagen Sie es mir!“ „Weil die Menschen im Osten mehr Feuer haben als die kühlen Geschäftemacher im Westen“, sagt er, der Ostistanbuler, und lacht über die europäischen West-Istanbuler.

Kurz darauf treffe ich einen solchen: Mustafa, einen freundlichen 80jährigen Englischlehrer, der sein Altersgeld mit Führungen durch die Hagia Sophia verdient. Er kennt den Sonnenspruch der Ostistanbuler, hat aber eine Entgegnung parat: „Wissen Sie denn, warum die Sonne im Westen untergeht? Weil es ihr im Osten zu heiß wird. Sie kann die hitzigen Querulanten in Asien kaum bis Mittag ertragen, flüchtet also nach Westen, um sich endlich bei uns gemütlich zu betten.“ Ossiwitze! Es gibt sie noch! Auf türkisch!

Als ich noch schmunzle, fällt mir auf, dass ich in Potsdam seit Jahren keinen Wessi- oder Ossiwitz mehr gehört habe. Sie sind verschwunden, irgendwann in den späten Neunzigern, irgendwie beiläufig. In Potsdam übrigens früher als anderswo. Heute sind Ossi-Wessiwitze jedenfalls so out wie Gamaschen oder Absinth. Alte SED-PDS-Linksparteienkaderrentner sollen sich auf Genossentreffen noch welche erzählen. Kaum zu glauben, die hatten doch nie Humor!

Natürlich fühlen sich in Potsdam die einen noch eher so, die anderen eher so. Aber es spielt nicht mehr die Rolle. Die Biografien und Erinnerungen verschränken sich, so dass Ressentiments zusehends altmodisch wirken – gerade in einer schnellen Stadt wie Potsdam. Wenn aber das Verbindende größer als das Trennende geworden ist, dann hat der Witz dazwischen kaum mehr einen Resonanzboden.

Jedenfalls scheinen unsere Gräben schon nicht mehr so tief wie die am Bosporus. Nur die Gehsteige der legendärsten aller Ost-West-Passagen, also diejenigen über die Glienicker Brücke, die könnten wir als letzten Schritt der inneren Wiedervereinigung doch noch verbreitern und verschönern. Gar nicht, um Witze zu verhindern. Nur um den Spaß auf der tatsächlich schönsten Brücke der Welt zu erhöhen. Ganz im Ernst!

Wolfram Weimer schreibt an dieser Stelle regelmäßig für die PNN. Unser Autor ist Chefredakteur des Magazins „Cicero“ und lebt mit seiner Familie in Potsdam

Wolfram Weimer

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