Homepage: Das Böse im Sexuellen
Prof. Karl-Erich Grözinger sprach an der Universität Potsdam über die Konzeption des Bösen in der jüdischen Kabbala
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Das Böse ist anziehend. Der Hörsaal am Neuen Palais ist schon gut gefüllt, doch immer noch strömen Menschen zur Ringvorlesung „Lässt der Teufel mit sich reden?“ Sie kommen wohl nicht nur wegen des Teufels, sondern vor allem wegen des Referenten. Prof. Dr. Karl-Erich Grözinger, Mitbegründer der Jüdischen Studien in Potsdam, ist eine Koryphäe für jüdische Mystik, also für die Kabbala, von der manche meinen, sie sei ein handliches Büchlein. Dabei ist sie ein weit verzweigter Strom im jüdischen Denken.
Um das Wesen des Bösen zu finden, fordert Grözinger das Auditorium auf, sich umzusehen. „Was sehen sie? Richtig! Die anderen.“ Da seien so viele begehrenswerte junge Mädchen, die sich schön zurechtgemacht hätten. Ein Kichern geht durch die Reihen. Als er dann noch von den attraktiven starken Männern schwärmt, hallt ihm ein keckes „Wo denn?“ entgegen. Der weißhaarige Emeritus überhört den Einwurf geflissentlich, denn natürlich ist er nicht gekommen, um Partnerschaften zu fördern, sondern um darüber aufzuklären, dass die Kabbala in der Sexualität das Böse verortet.
Gut ist der Mensch, wenn er die Gebote einhält, schlecht ist er, wenn er gegen sie verstößt, etwa wenn er fremdgeht. Eine einleuchtende Prämisse. Aber warum zum Teufel hilft selbst das intensivste Thorastudium nicht gegen unreine Träume, gegen sexuelle Phantasien, die bei Männern schon mal zur Verschwendung des wertvollen Samens führen – was eine starke Sünde ist. Was kann ein Mensch gegen Träume im Schlaf tun? Und wo kommen sie überhaupt her? Unsichtbare Ursachen sind nur an ihren sichtbaren Wirkungen erkennbar, sagten die Kabbalisten und meinten damit, dass eine Analyse der irdischen Wirklichkeit Aufschluss über die göttliche Sphäre bringen könne. Und dort oben schließlich würde ja entschieden über das menschliche Schicksal.
Wenn der Mensch also eine gute und eine schlechte Seite habe, dann muss es eine Entsprechung bei Gott geben. Es muss also neben der heiligen auch eine andere Seite, genannt sitcha achra, geben. Die konnte nur entstehen, weil es in dem harmonische Gefüge der Zehnfaltigkeit Gottes, wie das kabbalistische System der Sefirot, der zehn Gotteskräfte, auf christliches Vokabular heruntergebrochen auch genannt werden könnte, eine Störung gegeben haben muss. In einem Augenblick, als die Strenge Gottes nicht von der Liebe Gottes gebremst wurde, strömte die sitcha achra aus. Das Böse als ein Ausfluss Gottes, entstanden aus göttlicher Unachtsamkeit? Die sexuelle Konnotation ist nicht zufällig.
Aus der sitcha achra wird ein Abbild der Göttlichkeit, inklusive der zehn wirkenden Kräfte. Vorherrschend ist hier Samuel, dem Lilit als weibliche Kraft beigegeben wird. Was die beiden so treiben, würde verfilmt allenfalls im Nachtprogramm gesendet, zu explizit sind die Schilderungen. Da reiben sich die beiden göttlichen Kräfte aneinander und gebären kleine Dämonen, Strafengel, die nichts Besseres zu tun haben, als jedes Vergehen der Menschen zu notieren. Doch weit mehr Dämonen werden gezeugt, wenn die Kräfte der sitcha achra die Menschen heimsuchen. Sie entfachen sexuelle Lüste, indem die sich im Traum als Sexualpartner anbieten. Wer kann da noch treu bleiben? Die so gezeugten Traumkinder sammelt Lilit ein. Sie holt sich aber auch die Kinder, die in einer legitimen Beziehung durch illegitime sexuelle Gedanken entstehen. Wenn also einer der Partner im Akt an einen anderen denkt. In der irdischen Wirklichkeit erleiden diese Kinder den plötzlichen Kindstod.
Dass gegen den Sexualtrieb im Menschen kein noch so gebildeter Verstand gewachsen ist, wusste auch der Begründer der Psychoanalyse. War Sigmund Freud also ein Kabbalist? Nein, denn für ihn waren die Dämonen innerweltliche, genauer: innerpersonelle Kräfte. In dem Kampf mit seinen Trieben ist der Mensch ganz auf sich geworfen. Sein Handeln hat keine Auswirkungen auf eine göttliche Sphäre. Engel, die Strafzettel verteilen, gibt es bei ihm nicht. Lene Zade
Heute, 17.15 Uhr: „Paradoxe Bestimmung des Teufels in der katholischen Dogmatik“, Prof. Dr. Thomas Ruster, Neues Palais, Haus 9, Raum 112.
Lene Zade
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