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Homepage: Das „chef d“oeuvre“ wird in Potsdam lesbar

Die Akademie der Wissenschaften gibt Immanuel Kants „Opus postumum“ und andere seiner Werke neu heraus

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Die Akademie der Wissenschaften gibt Immanuel Kants „Opus postumum“ und andere seiner Werke neu heraus Von Guido Berg Potsdam. Der große Flachbildschirm ihres Apple könnte aus einem NASA-Space-Flight- Center stammen. Tatsächlich aber wird Jacqueline Karl an ihrem imposanten Equipment eine Arbeit zu Ende führen, die schon zu Beginn des Technologie-Zeitalters begann: Die Herausgabe der Schriften eines Philosophen, der aber immerhin der „Kosmologie“ und dem „bestirnten Himmel über mir“ einiges an Aufmerksamkeit widmete: Immanuel Kant, dessen Todestag sich am morgigen 12. Februar zum 200. Mal jährt. Auf Initiative von Wilhelm Dilthey von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde 1894 die Gesamtausgabe der Werke des Geistes-Titanen in Angriff genommen. Der erste Band der Briefe erschien als Band 10 der Gesamtausgabe im Jahr 1900. Seit 2002 ist die nunmehr Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften für das Mammut-Werk verantwortlich. An ihrer Kant-Arbeitsstelle am Potsdamer Neuen Markt soll das Jahrhundert-Projekt bis 2010 vollendet sein. Drei Editions-Vorhaben sind bis dahin zu bewältigen: Die erstmalige Herausgabe der Mitschriften der Schüler Kants zu dessen Vorlesungen über „Physische Geographie“ durch Professor Werner Stark. Weiterhin die Neuedition der drei Kritiken Kants („Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“), betreut von Tanja Gloyna. Die alten Akademie-Ausgaben sind in Fraktur-Schrift gedruckt, welche der jungen Doktorin zufolge „ja nicht mehr gängig“ ist und insbesondere englischsprachigen Lesern Schwierigkeiten bereitet. Auch wurde in den Alt-Ausgaben „K“ statt „C“ verwendet, es muss „Critik der reinen Vernunft“ heißen und „Categorie“, zudem wurde die Zeichensetzung verändert. Die Rückkehr zum Original sei keine „Altertümelei“, an manchen Stellen „ist dies von inhaltlicher Bedeutung“, erklärt Tanja Gloyna, „darüber hinaus sollen die neuen, benutzerfreundlichen Bände sachliche Erläuterungen und Register erhalten“. Von der internationalen Kant-Forschung vielleicht mit größter Spannung verfolgt wird die Neuedition des sogenannten „Opus postumum“, dem zu Lebzeiten Kants nicht mehr veröffentlichen Alterswerk des Philosophen, dass er selbst als sein Hauptwerk, als sein „chef d“oeuvre“ bezeichnete. Warum sich Jacqueline Karl noch einmal Seite für Seite dieser letzten Schrift auf ihren Bildschirm holen muss, um sie aus der Originalfassung in „lesbares Deutsch“ zu transkribieren, ist einem grundsätzlichen Fehler der Akademie-Ausgabe geschuldet, den Professor Stark mit einer „fatalen Tendenz zur Frühgeburt“ umschreibt. Schon in der Bezeichnung „Kant-Ausgabe“ stecke der Fehler, schreibt Stark in einem Aufsatz: Als ob die herauszugebenden Texte fertige Gebilde seien, die bloß noch ins Druckhaus geschafft werden müssten. Artur Buchmann und Gerhard Lehmann scheinen allerdings genauso verfahren zu sein, als sie 1936 und 1938 das „Opus postumum“ als Bände 21 und 22 herausbrachten. Da stehen auf der einen Seite Überlegungen zum „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften zur Physik“ – wie Kant das Werk nennen wollte – und auf der nächsten Seite stehen Anweisungen an die Köchin wie „Mittwoch. Dicke Erbsen mit Schwein Donnerstag Trocken Obst mit Pudding“. Nach Kants Tod 1804 wurden eine große Zahl dichtbeschriebener loser Blätter zu 13 Konvoluten (Bündel) zusammengepackt – darunter Alltagsnotizen, aber auch Vorarbeiten zu anderen Schriften, z.B. zum „Streit der Fakultäten“, und natürlich das große Altersprojekt des Philosophen. Letzteres aus den Konvoluten freizulegen, quasi die Spreu vom Weizen zu trennen und das „Opus postumum“ überhaupt erst in Reinform entstehen zu lassen, ist Aufgabe von Jacqueline Karl. Zunächst wurde der „Textcorpus“ im Frühjahr 1999 durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und mit Hilfe der „ZEIT“-Stiftung Hamburg aus Privatbesitz für die Staatsbibliothek in Berlin erworben. Dank der „ZEIT“-Stiftung konnten im Frühjahr 2001 die Vorbereitungen für die Edition beginnen. Jacqueline Karl ließ jede Seite aufwendig digitalisieren. Es entstanden 200-Mega-Byte-Dateien höchster Bildqualität, die es ermöglichen, einzelne Buchstaben handflächengroß auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen. Kant „denkt mit der Feder in der Hand“, sagt die Editorin. Um sich den richtigen Ausdruck zu erschreiben, überarbeitete er jede Seite mehrfach und beschrieb zuletzt auch den Rand mit Anmerkungen, Neufassungen und Texteinschüben. Um diesen Prozess des Denkens und Schreibens des großen Königsbergers nachvollziehen zu können, muss die Akademie-Mitarbeiterin erkennen, in welcher Reihenfolge die Textblöcke entstanden. Wenn Kant Gefahr lief, einem vorhandenen Abschnitt zu nahe zu kommen, ihn gar zu überschreiben, schrieb er seine Zeilen immer kleiner, um den restlichen Platz noch auszunutzen. An diesen immer kleiner werdenden Zeilen erkennt Jacqueline Karl, dass dieser Abschnitt später geschrieben wurde. Manchmal muss die junge Frau aber trotz ihrer Digitalisate einen Blick auf das Original in der Staatsbibliothek werfen. Einmal war eine Seite, ganz unten ganz rechts, statt vom Blättern abgegriffen zu sein, scharf abgeschnitten, den letzten Worten der unteren Zeilen fehlten die Endsilben. Auf der Rückseite, ganz unten, aber ganz links, fand sie die verschwundenen losen Endsilben wieder. Kant hatte einfach auf einem Eselsohr weitergeschrieben. Diensteifrige Bibliothekare glätteten die Seite später und trennten so für lange Zeit Wörter, die Jacqueline Karl nun wieder zusammenfügt.

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