Von Hannah Hufnagel: „Das deutsche Judentum gibt es nicht mehr“
Potsdamer Historiker Julius H. Schoeps sprach über die Tradition jüdischer Kultur in Deutschland
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Eine der fruchtbarsten Phasen der deutschsprachigen Kultur ist das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Klangvolle Namen und große Persönlichkeiten ließen sich endlos aneinanderreihen, darunter viele Juden: Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Albert Einstein, Stefan Zweig. Doch vom einstigen Glanz und Reichtum der deutsch-jüdischen Tradition sei nicht mehr viel übrig, so der Direktor des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Julius H. Schoeps.
Der emeritierte Historiker der Universität Potsdam äußerte sich unlängst bei der Auftaktveranstaltung der Reihe „Fluchtpunkte. Zu Tradition und Aktualität deutsch-jüdischer Kultur“ in Hamburg. Organisatoren sind die die Katholische Akademie Hamburg, die Bucerius Law School sowie die Jüdischen Gemeinde Hamburg. Schoeps zeichnete ein ernüchterndes Bild vom jüdischen Leben in Deutschland: Von den gut hundert jüdischen Gemeinden würden in den nächsten 20 Jahren nur die fünf oder sechs größten Gemeinden überleben. Bei einer Sterberate, die siebenmal höher liege als die Geburtenrate, hätten nur Gemeinden mit mehreren Tausend Mitgliedern die Chance, ihr Bestehen dauerhaft zu sichern. Neben der Berliner Jüdischen Gemeinde mit rund 11 000 Migliedern zähle auch die Hamburger Gemeinde mit rund 3500 Mitgliedern dazu, und so bekannte die stellvertretende Vorsitzende Karin Feingold: „Ich tagträume manchmal davon, dass aus unserer Schule eines Tages jüdische Religionslehrer, Kantoren und vielleicht sogar Rabbiner hervor gehen.“
Zwar schloss auch Schoeps eine Wiederbelebung des deutschen Judentums nicht aus, als bekennender deutscher Jude betonte er jedoch, dass die Gesellschaft ein „Phantomjudentum“ heraufbeschwöre, wenn sie von einem lebendigen jüdischen Kulturleben in Deutschland spreche. Der starke Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion habe die jüdischen Gemeinden hierzulande vor große Herausforderungen gestellt: Die Sprache als gemeinsame Basis sei verloren gegangen, und auch die Liturgie sei verschieden. Die deutschen Juden fühlten sich in ihren eigenen Synagogen zunehmend fremd.
Feingold ergänzte, dass die Identitätsfrage in den Gemeinden eine wichtige Rolle spiele, aber schlicht nicht zu beantworten sei. „Es gibt kein einheitliches jüdisches Selbstverständnis.“ Das Besondere der deutsch-jüdischen Tradition sei die Liebe der Juden zur deutschen Kultur und Sprache, erklärte Schoeps. Dennoch warb der Potsdamer Historiker nachdrücklich für die Öffnung der Gemeinden für Juden aus dem Ausland.
Die Leiterin des Studium Generale der Bucerius Law School, Ulrike Pluschke, sprach von einer „jüdischen Liebesaffäre mit der deutschen Kultur“, die jedoch einseitig gewesen sei. So hätten die Assimilationsbemühungen der deutschen Juden keine Anerkennung in der Umgebungsgesellschaft gefunden. Nach dem organisierten Judenmord, so Julius H. Schoeps weiter, sei es heute unmöglich, an die Traditionen vor 1933 anzuknüpfen. Mit der übersteigerten Solidarisierung der deutschen Gesellschaft sei den Juden wenig geholfen, betonte der 67-Jährige Schoeps.
Im Umgang mit den jüdischen Mitbürgern sei in Deutschland stets „das Abnormale das Normale gewesen“, was sich auch im modernen Nachkriegsdeutschland zeige: Aus einem schlechten Gewissen heraus versuche man „etwas sichtbar zu machen, was nicht mehr sichtbar ist“, gab Schoeps zu bedenken. Statt Überidentifikation sei jedoch Rationalität gefragt. „Die Gesellschaft muss sich damit abfinden, dass es das deutsche Judentum nicht mehr gibt.“ (KNA)
Hannah Hufnagel
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