SAMSTAGScocktail: Das große Leuchten
Kaum sind sie in den Truhen verstaut, die Felle, Mäntel und Joppen, wird es offenbar. Über den Winter hat es seinen Auftritt vorbereitet, unbemerkt und still.
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Kaum sind sie in den Truhen verstaut, die Felle, Mäntel und Joppen, wird es offenbar. Über den Winter hat es seinen Auftritt vorbereitet, unbemerkt und still. Jetzt kommt es zum Vorschein und wird großspurig spazieren geführt. Es – das Wunder. Die allseits sichtbaren Bäuche der Frauen in der Stadt beweisen eindeutig: das Verborgene ist nicht das Abwesende. Das Verborgene ist untrüglich vorhanden. Spürbar vorhanden.
Ich bin überrascht, sie plötzlich so zu sehen, sagt die Buchhändlerin. Und die Frau in dem Laden, in dem ich meinen Tee kaufe, ruft entsetzt: Grapefruit?! Ingwer?! In Ihrem Zustand? Höchstens Holunder!
Eine Art Verschwörung ist im Gange, eine Verschwörung gegen das Nichts, von dem das Erscheinen nichts wissen will. Raum, der vorher leer war, wird verdrängt, wenn etwas in ERSCHEINUNG tritt. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass es in der Mitte des Wortes leuchtet, so wie die Bäuche tatsächlich leuchten, wenn sie sichtbar werden. Ein aufmüpfiges Strahlen, während wir an einem Gedicht schreiben oder Roman, das wintermorsche Dach des Gewächshauses reparieren oder mit dem Fahrrad aufs Amt fahren. In den Cafés sitzen wir aufgereiht wie in einem Wartezimmer, plaudern mit unseren Männern, über Sarkozy, die Lage im Büro, einen Heizstrahler überm Wickeltisch und darüber, an die Ostsee zu reisen (noch einmal das Meer sehen!). Doch währenddessen tauschen wir geheime Zeichen aus, streichen wir über das Wunder knapp unter der Tischkante. Und während es den Anschein hat (der schöne Schein!), als schauten wir unter Kirsch- und Mandelbäumchen geruhsam aufs Havelwasser, lesen wir uns in Wahrheit in die brandenburgische Verfassung ein, reden mit der Wunderbauch-Trägerin neben uns über den Förderantrag für eine Fotoausstellung zum Thema deutsch-deutsche Grenze und füttern – ganz Unschuld – eine Ente nebenbei.
So lange, bis es nicht mehr geht. Bis es, irgendwann, nach dem Osterfest, herausschlüpft, das Verborgene. Wenn es sichtbar werden will und seinen Auftritt hat.
Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“.
Julia Schoch
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