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Landeshauptstadt: „Das ist hier keine Kaffeefahrt“

Potsdam–Rathenow mit sieben Stunden Zwischenstopp wegen Abschirmmatten und Wundermitteln

Stand:

„Immer wieder falle ich darauf rein, dabei habe ich mir so oft vorgenommen, aufzupassen.“ Die blauen Augen der 79-jährigen Charlotte Kern füllen sich mit Tränen. Sie hat sich falsch verhalten. Sie hat im unrechten Augenblick den Arm gehoben. „Ich habe gesagt, heben Sie den Arm, wenn Sie wirklich interessiert sind“, erinnert der smarte Herr Braunsieder mit mahnender Stimme. „Wenn Sie nicht wirklich interessiert sind, hätten Sie den Arm unten behalten können.“ Soviel Vertrauen sei doch moralisch zu verlangen. „Wir von der Firma XL sind ehrlich zu Ihnen, daher erwarten wir auch Ehrlichkeit von Ihnen“, ruft Braunsieder über sein Kopfmikrofon und schaut den fünf alten Damen unter den 35 Anwesenden im Saal, die den Arm gehoben haben, streng in die Augen. „Das ist hier keine Kaffeefahrt“, fügt er verächtlich hinzu.

Es geht um eine Matte fürs Bett. Alte Leute, die nicht mehr das Wasser halten können, die an Inkontinenz leiden, schnallen sie an die Matratze, um das Bett nicht zu befeuchten. Aber diese Matte hier ist etwas Besonderes: Sie enthält ein konzentrisches Plus-Minus-System gegen Elektrosmog und bringt zusätzlich den ersehnten Schlaf durch einen 27 Zentimeter hohen Magnetfeld-Schirm.

Charlotte Kern lebt seit 15 Jahren allein in ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung an der Neustädter Havelbucht. In den ersten Jahren nach dem Tod ihres Mannes glaubte sie noch, gut zurechtzukommen. Mit den Jahren aber nahmen Einsamkeitsgefühle und Schlaflosigkeit zu. Oft weiß sie nichts mit sich anzufangen. Da kommen ihr die Angebote „ihres“ Reiseclubs gerade recht. Nach der Wende hatte sie mit ihrem Mann eine Busfahrt nach Salzburg unternommen und seitdem steht sie in der Kartei des Reiseveranstalters. Diesmal lockt dieser mit einem Fußball-Weltmeisterschafts-Gewinn, mit Gratis-Geschenken und mit dem Erlebnis der Landesgartenschau in Rathenow. „Da komme ich sonst alleine nicht hin.“

Im Morgengrauen warten die weit über siebzig Jahre alten Reiselustigen an den acht Haltepunkten in Potsdam, von der Berliner Vorstadt bis Bornim-Kirche. Charlotte steigt an der Billard-Kneipe an der Zeppelinstraße zu. Hier trifft sie einige wie sie ergraute Damen, die sie von früheren Fahrten schon kennt. Es gibt ein fröhliches Begrüßungs-Hallo: Die unternehmungslustige Truppe ist wieder beisammen. Es herrscht eine familiäre Stimmung. Der betagte Bus grast die Route ab: 45 Minuten kostenlose Rundfahrt in Potsdam. Am Ende sitzen 35 „Grauköpfe“ auf den harten Bänken. Zum ersten Mal sehen viele den Uni-Campus in Golm. „Das es so etwas hier gibt, hätte ich nicht gedacht.“ Letzter Halt vor der Fahrschule Bannier. Der Busfahrer begrüßt die Gäste. „Wir fahren jetzt nach Premnitz, dort werden Sie von den Herren empfangen ...“, kündigt er an und kassiert von jedem vier Euro. Eine preiswerte Reise zur Landesgartenschau, zumal der Veranstalter einen Eintrittsgutschein verspricht.

Horst Braunsieder ist einer der drei „Herren“, welche die „lieben Gäste“ im Premnitzer Tanzlokal empfangen. Sieben Stunden, nur unterbrochen durch das Mittagessen, belehren und bearbeiten diese die „lieben Gäste“ über Elektrosmog, Magnetismus, Nahrungsergänzungsstoffe, Herba-Kuren zur Entgiftung und Aloe vera. Privatgespräche unterbindet der Verkäufer streng: „Hallooo, ich spreche doch nicht Chinesisch!“ Und fragt: „Wollen Sie wissen, was das kostet, dann heben Sie die Hand.“ Viele Arme schießen in die Höhe. „Wir konnten den Preis um sage und schreibe 500 Euro reduzieren – die holen wir uns vom Finanzamt“, sagt der Verkäufer triumphierend. „Fünfhundert Euro“, wiederholt er fast schreiend und stampft dabei mit dem Fuß auf. „Und nun meine Frage: Ist das gut?“ Das Echo ist ihm zu leise, daher wiederholt er: „Ich frage Sie nochmal, ist das guuut???“ Die kollektive Ja-Antwort entspricht im zweiten Anlauf seinen Erwartungen. Und dann die entscheidende Aufforderung: „Heben Sie den rechten Arm, wenn Sie wirklich, ich betone w i r k l i c h interessiert sind.“

Der Preis für die Abschirmmatte, die vor Elektrosmog schützt und eine Magnetfeldtherapie bringt, ist durch die Finanzkünste des Verkäufers in wenigen Minuten von 1798 Euro auf „sage und schreibe“ 898 Euro gefallen. Als Gratis-Beigabe gibt es als Extras eine Superpfanne oder einen Einkaufstrolley.

„Das ist ja mein ganzer Anteil an der Rente“, jammert Charlotte leise vor sich hin. 46 Jahre habe sie gearbeitet und sei finanziell gut versorgt, dazu kommen vierhundert Euro „von meinem Mann“, also Witwenrente. „Die Hälfte gebe ich den Kindern für die Miete, die würden sonst verzweifeln, denn beide sind schon lange arbeitslos.“ Herr Braunsieder besteht am Ende nicht auf der Konsequenz des falschen Armhebens, wenn er auch den Vertrauensbruch rügt. Er weiß, wie weit er gehen darf. Charlotte kehrt ohne Abschirmmatte nach Potsdam zurück, erwirbt am Ende „nur“ eine Dose Aloe vera für zehn Euro.

Anders sieht es bei Karin Maaß aus der Zeppelinstraße aus. Die 75-Jährige alleinstehende Frau zieht einen vollen Reisetrolley hinter sich her, auf dem wohl verpackt eine Abschirmmatte, die neueste Kurpackung Q 10 und ein Karton mit 250 Herba-Pflastern, die Giftstoffe über die Fußsohle aus dem Körper ziehen, verstaut sind. Dazu kommen als Zugabe ein Einkaufs-„Shopper“, eine Weltmeisterschaftsuhr („die ist in zehn Jahren das Hundertfache wert“) und ein praktischer Entsafter für die Küche. Um die Lippen von Frau Maaß spielt ein zufriedenes Lächeln: „Das war eine schöne Tour, die Gegend kannte ich noch nicht.“ Am Ende, fast schon am Abend, gab es nämlich doch noch einen kurzen Bummel über die Rathenower Landesgartenschau.

Es wird schon dunkel, als der Bus an der Endstation in der Otto-Nagel-Straße ankommt. Vierzehn Stunden war er auf Achse. Warum unterwerfen sich die alten Leute dieser anstrengenden Tortur? „Wissen Sie, denen fällt zu Hause die Decke auf den Kopf“, erklärt der Fahrer, der viele als Dauergäste kennt. „Wenn ich mal soweit bin, fahre ich vielleicht auch mit“, fügt er hinzu.

Anmerkung der Redaktion: Die Namen der Firmen und Personen sind verändert.

Tilo Bernhard

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