Landeshauptstadt: Das Kribbeln im Bauch
Beim Sicherheitstraining spielen Kinder gefährliche Situationen nach – und lernen, auf ihr Gefühl zu hören
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Lukas ist auf dem Heimweg von der Schule, als ein von hinten kommendes Auto neben ihm die Fahrt verlangsamt. Der Fahrer kurbelt die Scheibe herunter: „Hey Junge, ich hab voll die coolen Herr-der-Ringe-Figuren im Auto“, raunt er ihm zu. Einen Moment lang zögert der Erstklässler, seine Schritte stocken. Dann schüttelt er den Kopf und läuft entschlossen weiter. „Jetzt bleib doch mal stehen!“, kommt es unwirsch aus dem Auto. Aber Lukas lässt sich nicht mehr beeindrucken. „Nein“, sagt er deutlich. Und erntet damit Applaus.
Denn um Lukas und das imaginäre Auto sitzen im Halbkreis zehn Kinder im Grundschulalter. Am vergangenen Wochenende kamen sie zu einer Sicherheitsschulung für Kinder in die Räume des Stadtkontors in der Schornsteinfegergasse 3 in Babelsberg. Sicherheitstrainer Holger Schumacher, eben noch der zwielichtige Autofahrer, lobt Lukas jetzt. Lektion gelernt, Lukas atmet auf.
Die Kinder wirken aufgekratzt. Ein jüngeres Mädchen läuft vor Aufregung zu seiner Mutter, die hinten im Raum sitzt. Ist diese Sicherheitsschulung Angstmache? „Nicht an jeder Ecke stehen böse Menschen“, beruhigt Schumacher die Kinder. Trotzdem kann es hilfreich sein, Gefahrensituationen im Rollenspiel zu üben. Zur Auflockerung macht der Seminarleiter, der früher in einer Spezialeinheit der Hamburger Polizei gearbeitet hat, zwischendurch Scherze. Dann brechen alle in erleichtertes Gelächter aus.
Sonst ist die Stimmung ernst, die Kinder sind bei der Sache. Dafür sorgt Schumacher, indem er jeden einzeln anspricht. Gemeinsam wird die Szene weiter analysiert: Ist es sinnvoll, die Straßenseite oder Laufrichtung zu wechseln? Wo kann man Hilfe erwarten? Darf man bei Fremden klingeln, wenn keine Bekannten in der Nähe wohnen? Wie erreicht man, dass einen Erwachsene ernst nehmen, wenn man um Hilfe bittet? Schumacher gibt den Kindern klare Anweisungen. Ein Anruf bei der Polizei kann Sinn machen: „Der Notruf 110 ist nicht nur für Mord und Totschlag“, klärt der Ex-Polizist auf.
Immer wieder fordert Schumacher die Kinder zum Nachdenken auf. „Wie geht es uns, wenn uns jemand so aus dem Auto anspricht?“, fragt er in die Runde. „Schlecht“, sind sich die Kinder einig. „Woran merken wir das?“, hakt er nach. „Am Kribbeln im Bauch“, sagt Lukas. „Und wie heißt dieses schlechte Gefühl?“ – „Angst!“, rufen die Kinder im Chor. „Und was sagt uns die Angst?“ - „Vorsichtig sein!“
Aber was passiert, wenn der Mann aussteigt und das Kind mit Gewalt ins Auto ziehen will? Schumacher erklärt den „Spiderman-Trick“: Die Kinder sollen Hände und Beine ausfahren - „Zonk!“ - und sich damit gegen den Türrahmen sperren. An die Eltern gerichtet erklärt Schumacher weiter: Natürlich kann jeder ein Kind mit Gewalt in ein Auto drängen, wenn er es will. Die Täter von Kindesentführungen aber handeln in der Öffentlichkeit und wollen keine Aufmerksamkeit erregen, gibt er zu bedenken.
Das Training in Selbstbehauptung und Selbstverteidigung hat Schumacher 1983 ursprünglich für Frauen entwickelt. Mittlerweile beschäftigt er mehrere Trainer. Seit Anfang der 1990er Jahre bietet der gebürtige Hamburger bundesweit die Schulungen auch für Kinder an.
Ganz billig ist das allerdings nicht: 115 Euro pro Kind bezahlten die Eltern in Babelsberg für die 16-stündige Schulung. Trotzdem ist Silke Stöber, eine Mutter, am letzten Tag überzeugt: „Die Kinder lernen, Nein zu sagen“, begründet die Agrarwissenschaftlerin. Begeistert ist sie davon, wie Schumacher das Angstgefühl thematisiert und als wichtiges Signal deutet. „Viele Kinder stehen nicht zu ihrem Gefühl“, weiß sie. „Wenn sie Angst haben, werden sie nur still.“
Infos im Internet: www.wo-de.de.
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