Homepage: Das Pilzjahr
Wolfgang Hildesheimer alias G.T. Pilz inspirierte das Einstein Forum
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Der renommierte „Killy“, ein mehrbändiges Literaturlexikon, enthält einen recht ausführlichen Beitrag über Gottlieb Theodor Pilz, den Literaten und Tonsetzer. Nach den dort verzeichneten Lebensdaten, 1789-1856, wäre dieses Jahr sein 150. Todestag zu begehen. Doch einmal mehr, so klagt das Potsdamer Einstein Forum, sei der „wichtigste Dämpfer der abendländischen Kultur“ vergessen worden. Grund genug, kurz vor Jahresende zu einem kleinen rotweingetränkten Symposium unter der klaren Stellungnahme „2006 – Ein Pilzjahr“ einzuladen, um den Einzelgänger Pilz zu ehren, dessen erklärtes Ziel es immer war, ein Verhinderer von Kunstwerken zu sein.
Einer, der vermutlich inkognito hätte erscheinen wollen, konnte nicht kommen – Wolfgang Hildesheimer. Der Autor und Maler kannte das Leben des Geehrten wohl am besten, schließlich hat er es erfunden und in dem Erzählband „Lieblose Legenden“ veröffentlicht. Die als hymnischer Nekrolog geschriebene Geschichte erzählt, wie einer in das Weltgeschehen eingreifen will, indem er intellektuelle und musische Ergüsse zu unterbinden sucht. So habe Pilz nicht nur Klopstock gekannt und ihm als Neunjähriger etliche Oden entwendet, um diese zu vernichten. Auch Madame de Stael soll er getroffen haben, an der Seite von August Wilhelm Schlegel. Eine Begegnung, die erfolglos blieb, denn Pilz habe nicht verhindern können, dass die Französin ihre Liebe zu Deutschland gleich in vier Bänden publizierte. Erfolgreicher sei er bei Friedrich Ludwig Jahn gewesen, den er von einem groß angelegten Dramenzyklus abhielt, indem er seine Liebe zu Leibesübungen förderte. Ein genialer Solitär stemmt sich hier gegen die Lawine der Veröffentlichungen auf dem Buch- und Notenmarkt.
Der satirische Stil wirkte inspirierend auf das Symposium. Nun mag ein wissenschaftlicher Vortrag sowieso Performancecharakter haben, die Tafelrunde im Einstein Forum spitzte die Umgangsnormen des Wissenschaftsbetriebes jedoch selbstironisch auf das Schönste zu, sehr zur eigenen Belustigung und zur Freude des Publikums. Veranstalter Rüdiger Zill, selbst ernannter Pilzianer der konfusianischen Fraktion, zelebrierte die linguistisch geschulte Spurensuche nach einem Lebens, das es nicht gegeben hat. Zuvor hatte sich Wolfgang Hörner, Lektor des Eichborn Verlages, als ein Nachfahre im Geiste qua Berufsethos präsentiert. Die Anstrengungen, die Veröffentlichung von Manuskripten zu unterbinden, seien viel zu wenig geachtet. Matthias Greffrath parodierte die Besessenheit biographischer Forschung und ihr nicht seltenes Abrutschen in psychologisierende und pathologisierende Lebensdeutung wunderbar. Die Rhetorik hätte formvollendeter nicht sein können, färbte auf die Diskussionsbeiträge aus dem Publikum ab und würzte das veritable Streitgespräch.
Im Laufe der dreistündigen Veranstaltung brach sich das vereinzelte Schmunzeln im Publikum immer wieder in schallendem Gelächter Bahn. Die so geistvolle, feinziselierte Verspottung des sich selbst generierenden Wissenschaftsbetriebs konnte allerdings nur der wirklich goutieren, der dazu gehört. Schon bei Hildesheimer zielt die Satire auf ein Bildungsbürgertum, das über sich selbst zu lachen versteht. Jedoch ist der Kanon, den er in seinen vielen Seitenhieben und Verweisen voraussetzte, längst überholt und ausgewechselt. So gesehen gibt es reichlich viele Pilze in der Literaturgeschichtsschreibung. Nur einen wie Hildesheimer, der in seiner Ironie auch immer Gesellschaftskritik übte, gibt es nicht oft. Vor 15 Jahren starb er. Und ihm wohl war die gelungene „Gedenkveranstaltung“ vor allem gewidmet. Lene Zade
Lene Zade
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