Sport: Das unbeschwerte Gemüt des Siegfried Valentin
Zum heutigen 70. Geburtstag eines Potsdamer Weltrekordläufers
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Unsere Welt ist nicht mehr jene von 1948, als in einem Lausitzer Dorf ein 12-jähriger Schulbub namens Siegfried Valentin mit seinem Sportlehrer um die Wette laufen musste. Die Welt der Leichtathletik schon gar nicht – deutsche Dauerläufer werden momentan von der Weltspitze überrundet. Dabei bestimmten sie einst das Weltniveau mit.
So wie Siegfried Valentin, der heute in Potsdam seinen 70. Geburtstag feiert. Der in Wallwitz – heute Watowice – geborene Valentin ging zwar bei internationalen Meisterschaften leer aus, gehörte dennoch in die „Hall of Fame“. Er wurde viermal DDR-Meister über 1500 m, stellte vier Weltrekorde – einen über 1000 m, drei mit der 4x1500-m-Staffel – sowie 17 Deutsche Rekorde auf. Valentin lief als erster Deutscher die 1000m unter 2:20, die 1500 m unter 3:40 und die Meile unter 4 Minuten. Er galt als das deutsche Enfant terrible der Mittelstrecke. Wenn er am Start war, wusste man nie: Begnügt er sich mit einem Spurt oder peilt er einen Weltrekord an. Beides verlief stets spektakulär.
Als Junge hatte der einer Tuchmacherfamilie entstammende Siegfried Valentin – nach dem Krieg in Zülkendorf sesshaft geworden – weite Wege zurückzulegen, die er meist rannte: Vormittags drei Kilometer Schulweg und nachmittags fünf Kilometer nach Wiesenau zum Kühehüten bedeuteten 16 Kilometer Dauerlauf am Tag. Kein schlechtes Pensum für den Blondschopf, der Handball für die BSG Stahl Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) spielte, als er eine Lehre als Heizungsinstallateur begann. Bei einem Berufsschulsportfest lief er barfuß 9:20 über 3000 m – das war der Anfang seiner Leichtathletik-Karriere. 1954 wurde Valentin schon Deutscher Jugendmeister über 1000 m in der damaligen Rekordzeit von 2:30,4 min. Ein Jahr später kam der junge Läufer zum Sportklub ZSK „Vorwärts Berlin“ – ab 1965 ASK „Vorwärts“ Potsdam – unter die Fittiche von Trainer Curt Eins. Er war recht grundschnell, aber gut einteilen konnte er sein Tempo in den Wettkämpfen nicht. Wenn er sich gut fühlte, rannte er einfach los.
1957 erreichte Siegfried Valentin die DDR-Spitze, ein Jahr später die Weltelite. Im Juni 1958 bezwang er in Turku über 1000 m den amtierenden 1500-m-Weltrekordler Stanislaw Jungwirth (CSSR) und dessen Vorgänger Istvan Rozsavölgyi (Ungarn) mit einem neuen Deutschen Rekord. Noch zweimal gelang ihm das in jenem Jahr. 1959 war er in der Form seines Lebens: Er lief neun gesamtdeutsche Bestmarken – darunter den Europarekord über 1 Meile und den Weltrekord für Klubstaffeln über 4x 1500 m – sowie einen DDR-Rekord. Valentin siegte unter anderem bei den Britischen Spielen und den Länderkämpfen gegen Großbritannien und Norwegen.
In jener Lebensphase hätte der Potsdamer wie seine Vorbilder Paavo Nurmi, Rudolf Harbig und Emil Zatopek Weltrekorde brechen können – bei besserer Renneinteilung. 1959 bei seinem Länderkampfsieg in Oslo über 1500 m beispielsweise wurden die ersten 800 m im Bummeltempo absolviert, dann zog der Potsdamer davon. Trainer Eins schüttelte den Kopf: „Viel zu früh.“ Doch Valentin hielt durch und lief mit 3:39,3 min neuen deutschen Rekord. Als sein Trainer die Zwischenzeiten durchrechnete, kam er zu einer Sensation: Valentin war im 1500-m-Rennen die letzten 800 m in sagenhaften 1:46,9 min gelaufen.
Bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom scheiterte Valentin jedoch. Nach einer Verletzung gerade noch in Form gekommen, überschätzte sich der Naturbursche in der südlichen Vormittagssonne Roms. Er lief sich als einziger Aktiver in der prallen Sonne ein, dazu ohne Kopfbedeckung, erlitt im Vorlauf einen Hitzschlag und schied aus. Tagelang lief der Potsdamer danach allein durch die „Ewige Stadt“, hatte er Depressionen, ehe ihn einer aufrichtet. „Kopf hoch, Siegfried, beim nächsten Mal machst du es besser“, meinte Gustav-Adolf „Täve“ Schur, der im Mannschaftszeitfahren Silber geholt hatte (siehe auch Seite 20).
1961 war Valentin der beste 1500-m- Läufer der Welt, über 800 m schlug er den australischen Olympiasieger Herbert Elliott. Nach einem Verschnaufjahr 1962 lief er 1963 noch einmal Weltklassezeiten, bei Olympia in Tokio aber scheiterte er erneut im Vorlauf. Für die nächsten Olympischen Spiele in Mexiko erschien der nun 28-Jährige den Funktionären als zu alt. Valentin musste aufhören und schloss sein Sportstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam ab. Danach war er zunächst bei den Grenztruppen, später im GRW Teltow, nach der Wende bei der Tiefbaufirma Oldenburg tätig.
Seit 1958 ist Siegfried Valentin mit seiner „Mary“, die eigentlich Erika heißt, glücklich verheiratet. Zwei Söhne und fünf Töchter, die lange aus dem Haus sind, haben beide großgezogen. Inzwischen haben sie elf Enkel – zu Geburtstagsfeiern wie der heutigen wird es eng in der neuen Babelsberger Apartmentwohnung. Wenn man ihn heute in seiner Wohnung sitzen sieht, erahnt man noch immer die Aura von einst. Valentin ist gesund, hat bis heute noch keine Tabletten gebraucht. Beim Erzählen wird er temperamentvoll wie einst auf der Aschenbahn: „Stell dir vor, einmal wollte ich Weltrekord über 3000 Meter laufen und ging die ersten 1500 Meter in 3:45 Minuten an. 7:30 wären am Ende herausgekommen. Das lief man erst 20 Jahre später.“ „Und?“ „Ach, ich brach ein, die Muskel übersäuerten. 200 Meter vorm Ziel holten sie mich ein. Ich ließ mich auf den Rasen fallen und wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte.“ Hans Groschupp
Hans Groschupp
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