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Landeshauptstadt: Den Baum erbeißen

Eine Ausstellung des Oberlinhauses macht den Alltag im Dunkeln erfahrbar

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Eine Hand tastet sich nach vorn, die Füße folgen ihr – der Vordermann ist weit genug entfernt. Nur einen Schritt voraus ist er schon längst nicht mehr zu sehen. Genauso wenig wie die Hand direkt vor den Augen. Die Besucher stolpern im Dunkeln durch die Ausstellung „Unsichtbare Welten“, die das Oberlinhaus seit gestern in den Bahnhofspassagen zeigt.

Geführt werden sie von einem blinden Ausstellungsbetreuer, der sich so selbstsicher durch das Schwarz bewegt, als würde er jedes Hindernis schon von weitem erkennen. Der Besuchertrupp kämpft sich dagegen unter seinen Anweisungen nur langsam durch den unendlich wirkenden Raum. Den haben die Ausstellungsmacher in fünf unterschiedliche Bereiche geteilt. Die Gäste können im Dunkeln einen Tisch decken und Wäsche auf die Leine hängen. Im Minibauernhof laufen sie über unsichtbares Stroh an ausgestopften Tieren vorbei, dann geht es weiter über knirschenden Kies, und weichen Sand zur andeuteten Baustelle. Eine Ampel piept erst, beginnt dann zu klacken. Aber welches Geräusch bedeutet Grün? Zum Glück wird man hier höchsten von anderen Besuchern gerammt.

Die Menschen in der Ausstellung lachen viel über ihre vorübergehende Hilflosigkeit. Trotzdem hofft die Leiterin der Taubblinden-Arbeit am Oberlinhaus, Katharine Biesecke, dass sie „ selbst, sinnlich die Erfahrung machen können, was es bedeutet blind zu sein.“ Beim Einkauf zum Beispiel. Und so gibt der Führer gleich am Eingang der Dunkelkammer die erste Anweisung: „Orientieren sie sich einfach an dem Kräutergeruch!“ Dem Duft nach Minze und Salbei folgend stehen schließlich alle an einem improvisierten Verkaufsstand. Dort befühlen sie den Inhalt einer rauen Holzkiste: die glatte, mit feinen Adern durchzogene Haut eines Kohlkopfs, Möhren, Äpfel. Jemand greift in etwas Feuchtes, erschrickt sich und weiß gar nicht, wovor: eine faule Stelle im Obst oder eine Schnecke?

Biesecke hat die Entstehung der Ausstellung über die Taubblindenarbeit im Oberlinhaus betreut. Sie und ihre Kollegen haben die schwarzen, schweren, lichtundurchlässigen Vorhänge besorgt – Reste von Filmproduktionen von den Filmstudios Babelsberg. Einen halbes Jahr haben sie zusammen mit einer Ausstellungsgestalterin an der Schau gearbeitet. 220 Besucher, vorwiegend aus Potsdamer Schulen, haben sich bereits dafür angemeldet. Bis zum 9. September wird die Dunkelkammer täglich geöffnet sein.

Eindrucksvoller noch als diese zeigen die Fotografien, manche von Biesecke selbst, andere aus dem Oberlinarchiv das Leben von Taubblinden: Da beißt ein kleiner Junge mit Pudelmütze in die Borke eines Baumes, um ihn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen zu erfassen. Ein anderes Bild von 1920 zeigt Gehörlosen-Lehrer Gustav Riemann mit einem Schüler, dem er sein Daktyl-Alphabet beibringt. Mit den Fingern betasten sie sich gegenseitig den Mund. Riemanns Handzeichen waren der Grundstein der Taubblinden-Bildung in ganz Deutschland. Entwickelt hat er sie vor über 100 Jahren im Oberlinhaus. Bereits 1887 lebte im damaligen Heim für Kleinkinder das erste taubblinde Mädchen. 1906 entstand das erste deutsche Taubblindenheim in Babelsberg – bis 1967 blieb es das einzige. Heute sind es bundesweit sieben.

Neben seiner Arbeit im Babelsberger Heim hat Heilerziehungspfleger Ralf Herrmann alle Buchstaben des so genannten Oberlin-Alphabets für die Ausstellung in Gips gegossen. 25 weiße Hände in verschiedensten Stellungen leuchten nun von einer schwarzen Wand – erster Blickfang der Ausstellung am Bahnhof. Die passenden Modelle dafür seien allerdings schwer zu finden gewesen, so Herrmann, der die Handzeichen bei seiner Arbeit „wie eine Fremdsprache“ gelernt hat. Denn das Alphabet hat mittlerweile mehr Buchstaben als Anwender. Im Oberlinhaus lebten nur noch fünf Bewohner, die diese sie verstehen, so Herrmann. Der letzte, der die alten ursprünglichen Riemann-Zeichen erlernt hat, ist heut um die 30 Jahre alt. Die meisten Taubblinden verständigen sich mit dem Lormen-Alphabet, dessen Buchstaben durch bestimmte Punkte auf der Handfläche dargestellt werden. Das gehe schneller und sei für Blinde auch nicht so kompliziert zu verstehen, meint der Heilerzieher.

So eine Szene wie auf einem der ausgestellten Schwarweiß-Fotos, in der sich mehrere Frauen gleichzeitig zum Tratsch an die Hände fassen, werde es wohl nicht mehr geben, glaubt Herrmann: „So viele Gesprächspartner gibt es gar nicht mehr.“ Trotzdem wird das Alphabet noch immer in Babelsberg unterrichtet – allerdings in einer moderneren Fassung.

Juliane Wedemeyer

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