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Landeshauptstadt: Den Tod ins Leben zurückholen

Die Kinderhilfe betreibt in Potsdam eine Beratungsstelle für schwerkranke Kinder und deren Familien

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Jägervorstadt - Fotografien von fröhlichen Kindern und Jugendlichen liegen auf einem Schränkchen am Ende von Martina Geiersbergs Schreibtisch. Daneben stehen zwei brennende Kerzen. Es sind Bilder von jungen Patienten, die die ehrenamtlichen Familienbegleiter der Kinderhilfe Berlin-Brandenburg e.V. bis zu ihrem Tod begleiteten.

Sie leben weiter in den Erinnerungen, im langen Abschied vom eigenen Kind, in der Familie, in den lebendigen Erzählungen der Koordinatorin der Familienbegleiter. „Ich bin angekommen, ich bin am richtigen Platz“, sagt die heute 48-Jährige. Es ist ein bedrückendes Thema, dem sich Martina Geiersberg stellt. Wenn ein Kind sterbe, sei nichts mehr wie vorher. „Das ist einfach nicht vorgesehen“, sagt die Familienbegleiterin, die selbst ihren Sohn verloren hat. Er war 16, als er starb. Das Leben mit dem Kind kehre nie mehr zurück, man lebe mit dem Verlust, sagt Martina Geiersberg. Es gelte sich dem zu stellen, der Tod müsse ins Leben zurückgeholt werden, erklärt sie. „Er ist ein Teil davon.“ Wichtiger aber noch als das scheint die Pflicht, den jungen schwerkranken Patienten ihre Würde zu erhalten. Sie erzählt von Steffi, die einen Tumor im Kopf hatte und deren schlimmste Vorstellung es war, da zu liegen und nichts mehr tun zu können. Deshalb habe sie in Absprache mit ihren Eltern die Möglichkeit eines Selbstmordes vorbereitet. Sie wollte damit unabhängig bleiben. Für Steffis Eltern war der Tod das Schlimmste, für Steffi die Aufgabe ihrer Selbstbestimmung.

Beratung für den Akutfall und Begleitung in schwierigen Zeiten vermitteln die Kontakt- und Beratungsstellen der Kinderhilfe, die in Potsdam, Brandenburg/Havel und Frankfurt (Oder) ihre Standorte im Land haben. Zehn ehrenamtliche Familienbegleiter gehören bisher zum Brandenburg-Team. Weitere sieben seien derzeit noch im Ausbildungsprogramm, sagt Martina Geiersberg. Zum Verein Kinderhilfe, der vor 25 Jahren aus einer Elterninitiative in Westberlin entstand, gehört auch die Björn-Schulz-Stiftung, mit deren finanziellen Mitteln zum Beispiel das Kinderhospiz Sonnenhof oder auch ein Ferienhaus auf Sylt betrieben wird. Begonnen habe der Verein mit Hilfen für leukämie- und tumorkranke Kinder, das Angebot erstrecke sich mittlerweile auf Familien mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die aufgrund anderer Leiden sterbenskrank seien.

Die Schulung der Ehrenamtler dauere ein Dreivierteljahr. Darin enthalten seien Informationen über Krankheitsverläufe, Therapien, aber auch Selbsterfahrung, erzählt Familienbegleiter Wolfgang Latussek. Der inzwischen freigestellte Rentner in Altersteilzeit ist ausgebildeter Elektroniker. „Ein nüchterner Beruf“, resümiert der Potsdamer, der im Rentenalter noch seine Erfüllung in der sozialen Arbeit finden wollte. Die Aufgaben für den Begleiter ergeben sich aus den Anforderungen, die die Familie stellt. Wolfgang Latussek sollte dem 16-jährigen René seine „karge Freizeit“ gestalten. Der Junge sei durch die Chemotherapie kahl gewesen, hätte im Rollstuhl gesessen und kaum mehr als Ja und Nein gesagt, als der Familienbegleiter ihm im Januar 2007 zum ersten Mal begegnete. Immer dienstags und donnerstags sei er für ein paar Stunden zu René gefahren, der ein ausgeprägtes Faible für Technik hatte. Als der Betreuer den Computer des 16-Jährigen neu aufbaute, brach das Eis. „So oft es der Gesundheitszustand von René zuließ, fuhren wir in Medienmärkte. Da konnte er stundenlang sein“, erzählt Wolfgang Latussek. Renés Haare wuchsen, er konnte wieder ein paar Schritte gehen. „Es ging aufwärts.“ Um so heftiger traf es den Rentner, als der 16-Jährige nach seiner zweiten Chemo ins Koma fiel. Er hatte seinem Betreuer und Vertrauten einmal erzählt, dass er in ähnlichem Zustand vor Jahren gehört habe wie mit ihm gesprochen worden sei; er habe auch das Streicheln gespürt. „Ich setzte mich also an sein Krankenbett, mir gegenüber seine Mutter. Und wir sprachen mit ihm und streichelten seine Arme.“ Drei Tage lang. Dann starb René. Das war im September. Mit dieser Aufgabe sei er gewachsen. „Ich wusste nicht genau, wie viel ich mir zutrauen kann“, sagt er. Manches im Leben sei eben nur erfahr- und nicht vermittelbar, sagt Martina Geiersberg, die ihre Ehrenamtlichen in regelmäßigen Zusammenkünften betreut.

Wolfgang Latussek hat Renés Mutter in ihrer Trauer noch begleitet und seinen eigenen Schmerz verarbeitet. Jetzt sei er langsam wieder bereit für eine neue Familienbetreuung. Am liebsten solle es wieder ein junger Mann sein.

Die Kontakt- und Beratungsstelle der Kinderhilfe ist in der Gregor-Mendel-Straße 10/11. Tel.: (0331) 270 71 70

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