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Homepage: Der gastronomische Langzeitstudent

Verborgene Campus- Orte: „Das Lokal“ am Bahnhof in Griebnitzsee

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Verborgene Campus- Orte: „Das Lokal“ am Bahnhof in Griebnitzsee Von Matthias Hassenpflug Mittags, zwölf Uhr, ein junger Mann, der aussieht, wie früher Studenten aussahen – einer mit ausgewaschenem T-Shirt und Turnschuhen –, betritt „Das Lokal“ am Vorplatz des Bahnhofs Griebnitzsee. Von dem ehemaligen Wartesaal des Bahnhofs ist nicht viel übrig geblieben, nur die geflammten roten Keramikfliesen an den Säulen deuten an, dass es Zeiten gab, in denen es hier nicht so gemütlich aussah. Jetzt, als Schankraum, ist das dunkelbraune Kneipeninventar gut dazu, das Tageslicht zu absorbieren. Der Mittag ist nicht die Stunde dieser Kneipe. Sie wartet träge auf die durstigen Kehlen der Nacht und den Lärm, den sie dann hervorbringen. „Das Lokal“ ist der Langzeitstudent unter den Einrichtungen, die sich auf Hochschulmitglieder verstehen. Ein großer Holzpropeller rotiert an der Decke, Stehtische mit Barhockern, Sitzecken auf Podesten, über der Tür ein sich drehendes Miniaturriesenrad. Eine alte, ausgediente Waage schmückt das Tresengeviert. Der Student setzt sich unter einen der goldgefassten großen Spiegel, die den Raum vergrößern sollen, auf eine Bank und liest das Angebot. „Das Lokal“ ist ein Sattmacher. Alles gibt es reichlich, immer verbunden mit dem Schlüsselwort „satt“ – sogar mit großem Anfangsbuchstaben. Es herrsche „das Satt“. Rippchen Satt. Heute: Chili Satt. Eierkuchen Satt. Oder Spaghetti „all you can eat“. Haxentag. Schnitzeltag. Hier wird der Gast – und der heißt in unmittelbarer Nähe zum Campus oft eben Student – als hemmungslos, gierig und allzeit hungrig verstanden. Ein Vielfraß. Jemand mit riesengroßem Appetit. Der Student, der erste und bislang einzige Gast des Tages, wählt Spaghetti Bolognese, mit frisch gehobelten Parmesan. Jeder weiß, dass man Spaghetti Bolognese preiswert in der Mensa essen könnte. Oder zumindest etwas, das ganz ähnlich aussieht und schmeckt. Und jeder weiß, das Spaghetti Bolognese eigentlich nur der Italiener würdig zubereiten kann. Warum also tut er das? Eine Getränkebestellung lehnt er ab. Das ist ungewöhnlich in einer Gastwirtschaft, die sich mit Transparenten schmückt, auf denen für Bier geworben wird, das „schneller schmecken“ soll. Das Bier kann das Dank doppeltem Alkoholgehalt. Der Blick aus dem Gastraum fällt ungestört in die Küche. Auf dem Fensterbrett, vor den vergitterten Scheiben, stehen Flaschen mit Speiseöl, daneben Whisky, Wein, auch Champagner. Doch dieseFlaschen sind leer. Es gibt Restaurants, die mit dieser Offenheit Vertrauen schaffen wollen. Man sieht also einen Koch, für den der Arbeitstag gerade erst begonnen hat. Er zerstückelt Gurken, Salat, Paprika und Hühnerbrüste mit routinierten Schnitten. Seine Arbeitsstelle ist sauber, er versteht sein Handwerk. Kennt er das Geheimnis einer guten Bolognese? Die Karotten, den Sellerie, das stundenlange leichte Simmern der Fleischsoße? Sein Blick ist zu konzentriert und ernst, um Leidenschaft in ihm lesen zu können. Immerhin hobelt er Parmesan auf die Nudeln. Draußen unter der großen Eiche auf dem Bahnhofsvorplatz wartet der Biergarten des Lokals auf milde Herbstabende. Vor dem Eingang sitzen zwei Studentinnen an einer Biergartengarnitur und trinken einen Kaffee. Nicht mit dem Zusatz „Satt“, aber immerhin einen Pott davon. Als die Pasta serviert wird, erkundigt sich der Student nach dem heutigen Tagesgericht, das erst nach seiner Bestellung an eine Tafel geschrieben wurde. Dienstag: Spinatnudeln. Billiger als die Bolognese, inklusive einem Getränk. Der Student sieht traurig aus. Als sich die Kellnerin umdreht, löscht er schnell seinen Durst aus einer Wasserflasche, die er aus seinem Rucksack holt. In der Zwischenzeit sitzen fast an allen Tischen Gäste. Ein Pärchen, zwei, die wie Vertreter aussehen, ein junger Vater mit seinem Sohn. Die meisten bestellen Chili – natürlich „Satt“. An den roten Säulen und einigen Wänden hängen uralte Poster. „Pirates of Dance“ kündigt DJ Bobo an, Ska und Ragga an der Fachhochschule, das war vor zwei Jahren. Nicht, dass die Plakate besonders toll aussähen. Auf den Fensterbänken stehen so genannte Beamtenpflanzen. Sie tragen diesen Namen, weil sie so leblos aussehen. Johnny Cash wechselt mit etwas aus den Boxen, das sich nach den alten Ramones anhört. Die Kellnerin fragt den Studenten: „Hat’s geschmeckt?“ Der Student antwortet nicht, und zahlt – mit großem Schein.

Matthias Hassenpflug

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