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Klangflecken in der Stille. Geräusche können bezaubern, aber auch stören.

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Auf einer internationalen Konferenz am Einstein Forum beschäftigten sich Wissenschaftler mit dem menschlichen Gehör

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Das Kind mache gut mit, der Muttermund sei jetzt ganz auf, hört man eine Stimme sagen. Dann sind zwei verschiedene Stimmen zu vernehmen: „Eins, zwei, drei, ja, gebt noch mal alles! – So, noch einmal schön tief atmen! – Habt ihr noch Kraft für den letzten Sprint!? – Ja, gleich ist er da!“ Babygeschrei ertönt. „Es ist so schön, wenn der Schmerz nachlässt“, sagt schließlich eine soeben Mutter gewordenen Frau.

In einer Toncollage hat der Autor und Rundfunkjournalist Helmut Kopetzky das Aufatmen einer werdenden Mutter während des Geburtsvorgangs gegen die anfeuernden Schreie eines Einpeitschers in einem Gymnastik-Studio geschnitten. Im Einstein Forum berichtete Kopetzky nun über 16-Stunden-Features des Hessischen Rundfunks. Dabei wurde der Klang eines ganzen Tages eingefangen und gesendet. Die „Zweideutigkeit des Hörens“ wollten die Organisatoren Matthias Kroß und Dominic Bonfiglio bei dem internationalen Symposium „Unerhört“ deutlich machen. „Musik ist belebend und kann uns unsere schönsten Momente bescheren“, so der Philosoph Bonfiglio.

Andererseits aber werde Musik auch als Folter eingesetzt, wie die Wissenschaftlerin Morag J. Grant in ihrem Vortrag erläuterte. Schon immer habe Musik auch den Krieg begleitet. Trommler sorgten vor dem Angriff für den Gleichschritt und ließen die Emotionen hochkochen, wenn es unmittelbar gegen „den Feind“ ging. In Guantanamo mussten Häftlinge schmerzvoll erfahren, dass populäre Popsongs psychische Traumata heraufbeschwören können, wenn sie nur entsprechend laut und ohne Unterbrechung ins Hirn geblasen werden.

Klang, Musik und Geräusche seien vielfältige Phänomene. Selten seien sie von den Geisteswissenschaften genauer untersucht worden, sagte Kroß. Einen wirklich systematischen Forschungsansatz zum Hörsinn und der akustischen Wahrnehmung unserer Umwelt gebe es eigentlich nicht. Deshalb hätten sich die beiden Organisatoren darauf verständigt, ein möglichst breites Spektrum von Wissenschaftlern zu dem Symposium einzuladen.

Nicht zuletzt, um auch meist Unerhörtes ins Bewusstsein zu rücken, startete das Forum mit einer Veranstaltung im Nikolaisaal, unter anderem waren dabei Kompositionen von John Cage und Steve Reich zu hören. Der Klang einer Muschel am Strand, das Meeresrauschen sind Themen von Cages Komposition „Inlets“. Nicht nur Cage machte sich Gedanken über Klang und Stille. Samuel Beckett behauptete, dass die Abwesenheit von Sprache wohltuend sein könne: „Jedes Wort ist ein überflüssiger Fleck in der Stille und dem Nichts.“ Ganz so wohltuend, wie der Dichter vermutete, ist die Stille allerdings nicht, weiß die Buchautorin und Journalistin Sieglinde Geisel: „Wenn wir nichts hören, in einem schalltoten Raum oder in der Wüste, fangen wir an, Klang und Geräusche zu assoziieren.“

Welche Geräusche als Lärm empfunden werden, sei weniger vom Klang als vielmehr von der Umwelt abhängig, hat Geisel herausgefunden. Der ungeliebte Nachbar, die hirnzermarternden Baumaschinen, der nie stoppende Geräuschpegel der Autostraße, in der Regel würden Geräusche als unangenehm empfunden, wenn sie willentlich von einer Person verursacht würden, auf die der ungewollte Zuhörer keinen Einfluss hat, stellt Geisel fest. Die Autorin vermutet, dass es im Alten Rom und in mittelalterlichen Städten mitnichten besonders still gewesen sei. „Da klapperten Pferdekarren über das Kopfsteinpflaster, alles schrie durcheinander, es war recht laut.“ Dagegen würden moderne Automobile immer leiser. Der ICE rausche nahezu geräuschlos in den Bahnhof ein. Erst mit der Neuzeit habe sich überhaupt ein Bewusstsein für die Unterscheidung von Geräusch, Lärm und sonstigen Klängen gebildet. Als immer mehr maschineller Lärm auf die Menschheit niedergeprasselt sei, habe sich auch das Empfinden für den Geräuschpegel der Metropolen geändert, so Geisel. „Anti-Lärmvereine“ zur Wiederherstellung der Stille seien gegründet worden. Da die Vereine allerdings recht elitäre Grüppchen gewesen seien, die wie der Philosoph Arthur Schopenhauer die Lärmempfindlichkeit als ein Zeichen höherer seelischer und geistiger Reife gewertet wissen wollten, hätten sie kein rechtes Gehör in der Öffentlichkeit gefunden. Arbeiter, dem täglichen Lärm der Produktionsmaschinen und Dampframmen ausgesetzt, bewegten sich weit außerhalb des Gesichtsfeldes der Vereine.

Den Klang der ganzen Welt hat dagegen Kopetzky im Blick. Als Audioreporter ist der vielfach ausgezeichnete Radiojournalist mit Mikrofon und Kassettengerät um den Globus gereist, um den typischen Klang von Autostraßen und Megacitys einzufangen. Dabei näherte er sich der Lärmquelle oder dem Sprecher, so weit es jeweils ging. „Durch den Blickkontakt entsteht eine Art Vertrag mit dem Sprecher“, weiß Kopetzky. Über die Jahre habe er ein riesiges privates Archiv von Tönen und Klängen angelegt. Darin findet sich auch ein Mitschnitt aus Israel. Die Gebete eines Juden hat Kopetzky mit dem Ruf eines Muezzin kombiniert und so die akustische Utopie eines friedlichen Palästina geschaffen. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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